Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Deutscher rettet Minister das Leben
Medizin Mit seiner Stammzellspende half Jonathan Kehl dem kanadischen Politiker Dominic LeBlanc, den Blutkrebs zu besiegen. Jetzt wollen sich die genetischen Zwillinge treffen.
Ottawa Für Dominic LeBlanc, Minister im Kabinett des kanadischen Regierungschefs Justin Trudeau, ist es „eine wundervolle Geschichte über Freundschaft, Zusammenarbeit und Menschlichkeit“. Vor drei Jahren hatte er sein Regierungsamt ruhen lassen müssen. Blutkrebs bedrohte sein Leben. Dass er heute Tag für Tag genießen kann, hat er einem jungen Deutschen zu verdanken. Dessen Stammzellspende ermöglichte LeBlanc das Überleben. Jetzt hat der Minister seine Geschichte öffentlich gemacht.
„Es geht mir sehr gut. Das verdanke ich meinem deutschen Freund, meinem genetischen Zwilling“, sagt LeBlanc. Auf der Sommerparty im Garten der Residenz des Premierministers in Ottawa steht er zwischen Medienschaffenden und Kabinettskollegen mit einem Glas Wein in der Hand. „Ohne Jonathan würde ich heute nicht hier sein“, sagt er.
Die Geschichte von Jonathan Kehl, dem heute 22-jährigen jungen Mann aus der hessischen Stadt Bad Hersfeld, und Dominic LeBlanc bewegt viele Menschen in Kanada. Trudeau veröffentlichte dieser Tage einen Tweet auf dem Nachrichtendienst Twitter. LeBlanc sei ein „zweites Leben“geschenkt worden „dank der Großherzigkeit dieses jungen Mannes“, schrieb Trudeau und nutzte dies zu einem Appell an die kanadische Bevölkerung, sich bei Kanadas Stammzellendatei registrieren zu lassen.
Mit der Registrierung bei der Deutschen KnochenmarkspenderDatei (DKMS) hatte Jonathan Kehl 2018 den entscheidenden Schritt getan. Die DKMS war in seine Schule, die Modellschule Obersberg in Bad Hersfeld, gekommen und hatte über ihre Arbeit informiert. Fast alle Klassenkameradinnen und -kameraden seien bereit gewesen, sich zu registrieren, erzählt Jonathan Kehl unserer Redaktion. „Es war wie heute beim Covid-Test, einfach ein ,swab‘, eine Speichelprobe.“
Ein Jahr lang hörte er nichts von der DKMS, bis er ein Schreiben erhielt, er sei in die nähere Auswahl für einen Patienten gekommen. Kehl wurde gebeten, sich zu einer Blutentnahme in eine lokale Arztpraxis zu begeben. Was er nicht wusste: Dieser Patient lebte in Kanadas Hauptstadt Ottawa. LeBlanc, geboren am 14. Dezember 1967, ist
ein Freund von Justin Trudeau seit Kindheitstagen, denn sein Vater Romeo LeBlanc war Minister im Kabinett von Trudeaus Vater Pierre. Dominic LeBlanc ist Kabinettsmitglied seit dem liberalen Wahlsieg im Herbst 2015 und heute Minister für Intergovernmental Affairs, grob übersetzt: Regierungsbeziehungen. Im Frühjahr 2019 wurde bei ihm das Non-Hodgkin-Lymphom diagnostiziert, eine aggressive Form von Blutkrebs. Es gab ein kleines Zeitfenster für Hilfe, aber dafür musste ein geeigneter Stammzellspender gefunden werden.
„Die deutsche Datenbank und die Qualität der Daten ist weltweit eine der besten“, sagt LeBlanc. Seine Klinik in Montreal nahm Kontakt mit Deutschland auf. „In Deutschland gibt es 26 Datenbanken, in denen sich Menschen als potenzielle Stammzellspender und -spenderinnen registrieren können“, sagt eine Sprecherin der DKMS. Mehr als 9,7 Millionen Menschen sind als mögliche Spender gemeldet – davon etwa sieben Millionen bei der DKMS.
Die Suche der Kanadier war erfolgreich. „Sie fanden die perfekte genetische Übereinstimmung, zehn von zehn Kriterien stimmten überein“, sagt LeBlanc. Nach weiteren Untersuchungen war klar, dass Jonathan derjenige ist, der LeBlanc das Leben retten kann. Nach kurzer Überlegung und einem Gespräch mit seinen Eltern entschied er, dass er helfen will. Er unterzog sich einer mehrtägigen Behandlung, bei der ihm eine Substanz injiziert wurde, die die Stammzellenproduktion im Knochenmark anregte. Dann fuhr ihn sein Vater Mitte September 2019 in die Klinik nach Frankfurt. Fünf Stunden lang hing er an einer Maschine, die sein Blut filterte und Stammzellen extrahierte. „Zwischen einem halben und einem Liter Blut wurde mir entnommen, mit hoher Konzentration an Stammzellen.“Es seien 500 Millionen Stammzellen gewesen, sagt LeBlanc. 370 Millionen waren als Minimum notwendig. Eine Krankenpflegerin aus Montreal flog nach Frankfurt, nahm die Blutspende in Empfang. Am 18.
September 2019 wurde in Montreal die Bluttransfusion vorgenommen. Um die Transplantation durchzuführen, musste LeBlanc sich in den Wochen zuvor einer äußerst starken Chemotherapie unterziehen. „Sie zerstörte mein Immunsystem völlig, aber sie war notwendig.“Die Transfusion dauerte lediglich zwei Stunden, aber LeBlanc war zwei Monate im Krankenhaus, mitten im Wahlkampf 2019. Er wurde trotzdem in seinem Wahlkreis in der Atlantikprovinz New Brunswick wiedergewählt.
Stammzellspender und -empfänger bleiben zwei Jahre anonym. „Ich wusste nur, dass es ein männlicher Kanadier ist“, sagt Jonathan. Zwar fragte er sich, wie es dem Empfänger wohl gehe, „aber eigentlich war das Kapitel für mich abgeschlossen“. Dann kam im Spätherbst 2021 ein Schreiben aus Kanada, auf Deutsch: „Sie haben mir das Leben gerettet und ich werde Ihnen für Ihre Großzügigkeit auf ewig dankbar sein“, schrieb LeBlanc. „Ich wusste ja nicht, ob Jonathan Englisch spricht, also ließ ich meinen Dank ins Deutsche übersetzen.“Das Krankenhaus hatte ihm den Namen des Retters mitgeteilt. „Ich war verblüfft, als ich sein Alter sah. Als er die Stammzellen spendete, war er gerade mal 20 Jahre alt.“
Jonathan Kehls Mutter Andrea suchte im Internet nach dem Namen des Absenders. „Wir hatten nicht erwartet, dass es eine in Kanada bekannte Person ist, sondern hatten mit einer ganz normalen Privatperson gerechnet, so wie wir es sind“, sagt Kehl, der inzwischen im Lehramtsstudium ist und bereits an der Konrad-Duden-Schule in Bad Hersfeld unterrichtet. Im November 2021 lernten sie sich über die Videoplattform Zoom kennen und stehen seitdem in Kontakt. Rund ein Dutzend Mal haben sie seitdem gechattet und bezeichnen sich nun als „quasi genetische Zwillinge“. LeBlanc ist völlig geheilt. Der Krebs werde nicht unterdrückt, sondern sei durch die Stammzelltransplantation völlig verschwunden, sagt er.
„Ich werde immer eine ganz besondere Beziehung zu Deutschland haben“, erklärt der Minister. Im Herbst, so hoffen beide, werden sie sich in Deutschland oder Kanada treffen. Die Einladung an Jonathan steht. Und sie hoffen, dass ihre Geschichte viele Menschen inspiriert, sich für eine Stammzellspende zur Verfügung zu stellen.