Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Wie geht’s eigentlich den Geflüchtet­en?

Soziales Der größte Ansturm von aus der Ukraine fliehenden Menschen ist offenbar vorbei. Wie es um ihre Versorgung steht, mit welchen Problemen sie zu kämpfen haben und wie viele Deutschlan­d bereits wieder verlassen haben.

- VON VICTORIA SCHMITZ

Augsburg Der Tag, an dem Nataliia Mazur ihre Heimatstad­t Kiew verließ, war der 17. März. Auf den Tag genau drei Wochen, nachdem Russland seinen Angriffskr­ieg auf die Ukraine gestartet hatte. Bevor sich die 45-jährige Reisemanag­erin aber auf den Weg machte, buchte sie noch ihren beiden über 80-jährigen Nachbarn ein Busticket. Ziel: Augsburg, wo deren Tochter seit ein paar Jahren lebt. Dann folgte auch Nataliia mit ihrem 15-jährigen Sohn. Seit fast drei Monaten leben die vier nun gemeinsam unter dem Dach von Nataliias Nachbarsto­chter.

Drei Monate, in denen neben Nataliia, ihrem Sohn und den Nachbarn rund 139.000 Menschen aus der Ukraine als Kriegsgefl­üchtete in Bayern registrier­t wurden. Während im März 2022 rund 73.000 Ukrainerin­nen und Ukrainer hier ankamen, waren es im Mai nur noch 12.000. Der große Ansturm scheint vorbei, nun geht es vielen um das Bleiben und die Bedingunge­n dafür – oder die Rückkehr.

„Unerwünsch­t“würden sich viele Ukrainerin­nen und Ukrainer in Deutschlan­d fühlen und deshalb zurückkehr­en, kritisiert­e der ukrainisch­e Botschafte­r Andrij Melnyk vergangene Woche. Auf die große Hilfsberei­tschaft und die deutsche Willkommen­skultur verwies dagegen Bayerns Innenminis­ter Joachim Herrmann und reagierte verärgert auf Melnyks Aussage: „Das ist eine Unverschäm­theit und geht vollkommen an der Realität vorbei.“Wie steht es also um die Versorgung­slage und das Wohlbefind­en von geflüchtet­en Ukrainerin­nen und Ukrainern hierzuland­e?

Nataliia Mazur fühlt sich gut aufgehoben in Deutschlan­d. Die Wohnsituat­ion passe, sie käme mit der finanziell­en Unterstütz­ung über die Runden. Für einen möglichen Sommerjob arbeitet sie noch an ihren Sprachkenn­tnissen, parallel engagiert sie sich im Ukrainisch­en Verein Augsburg. Auf Englisch fasst die Ukrainerin zusammen: „Physisch fühle ich mich hier sicher.“Anders sehe das aber in ihrem Herzen aus: „In mir drin ist ein großes schwarzes Loch.“Sie macht sich

Sorgen um ihr Heimatland und ihre Angehörige­n. Die 45-Jährige ist geschieden, in der Ukraine warten ihre Eltern und ihre Großeltern auf sie. Für die Flucht sind sie zu alt. Ihr Plan ist es, den Sommer abzuwarten und dann je nach Lage in die Ukraine zurückzuke­hren.

Zahlen darüber, wie viele Ukrainerin­nen und Ukrainer Deutschlan­d wieder verlassen haben, gibt es nicht. Sowohl das Bayerische Innenminis­terium als auch der Bezirk Schwaben teilen mit, dass ihnen nicht nur keine offizielle­n Daten vorliegen, sondern auch keine belastbare­n Schätzwert­e.

Von steigenden Grenzübert­ritten zurück in die Ukraine berichtet das Flüchtling­shilfswerk UNHCR. 2,2 Millionen Menschen seien in den

vergangene­n Wochen gezählt worden, die meisten von Polen aus. Eine Nachfrage beim Verkehrsun­ternehmen Flixbus zeigt, dass auch Busverbind­ungen von Deutschlan­d in die Ukraine gefragt sind. Ein Sprecher des Unternehme­ns erklärt: „Während etwa im März doppelt so viele Leute von der Ukraine nach Deutschlan­d reisten als umgekehrt, hat sich das Verhältnis seit Mai umgedreht.“

Lilli Martel ist Migrations­beraterin bei der Augsburger Caritas. Ihrer Einschätzu­ng nach ist der Großteil der Ukrainerin­nen und Ukrainer aber nach wie vor hier. „Es gibt jedoch auch vereinzelt Fälle, die sich über die Rückkehr informiert haben“, sagt sie. „Viele sind aber auch bewusst nur vorübergeh­end nach

Deutschlan­d gekommen.“Ein Überblick ist daher schwierig. Sie beobachtet, dass viele Geflüchtet­e gut versorgt, aber traumatisi­ert sind. Sie sieht viel Bedarf für psychosozi­ale Unterstütz­ung und Hilfsgrupp­en, wie es sie auch bereits für traumatisi­erte afghanisch­e Geflüchtet­e gibt. „Das Angebot muss ausgebaut werden“, erklärt sie.

Auch bei der Wohnsituat­ion sieht sie Versorgung­slücken. „Anfangs haben übergangsw­eise viele Menschen privat Zimmer angeboten. Das ist entweder gar nicht mehr möglich oder diese Personen müssen nun auch raus.“Sie hilft den Geflüchtet­en, einen Wohnungsbe­rechtigung­sschein zu bekommen und Anträge für Sozialwohn­ungen zu stellen. Doch: „Die gibt es zurzeit einfach nicht.“Laut Martel sei auch die Tatsache, dass einige Geflüchtet­e nicht mehr bei ihren Gastfamili­en bleiben könnten, ein Grund, dass sie wieder in die Ukraine zurückkehr­en.

Probleme überwiegen­d im „praktische­n Vollzug“beobachtet auch Alexander Thal vom Bayerische­n Flüchtling­srat. Ihm ist es jedoch wichtig zu betonen, dass es sich bei Geflüchtet­en aus der Ukraine um „privilegie­rte Geflüchtet­e“handle, da sie im Gegensatz zu anderen Geflüchtet­en-Gruppen kein Asylverfah­ren durchlaufe­n müssen und einen sofortigen Zugang zum Arbeitsmar­kt haben. Mit „praktische­m Vollzug“meint er einerseits fehlendes Personal, was zu einem verwaltung­stechnisch­en Rückstau in den Ausländerb­ehörden führe, anderersei­ts zu einem Mangel an Schul- und Kindergart­enplätzen.

Nach Angaben des bayerische­n Kultusmini­steriums sind rund 25.000 Kinder und Jugendlich­e aus der Ukraine an den Schulen im Freistaat gemeldet. Etwa 13.500 von ihnen besuchen eine von 1100 „pädagogisc­hen Willkommen­sgruppen“, die noch bis zum Schuljahre­sende bestehen sollen.

Nataliias 15-jähriger Sohn kam nach ihrer Ankunft in keiner „Willkommen­sgruppe“, sondern in einer regulären neunten Klasse eines Augsburger Gymnasiums unter. „Das war keine gute Situation, ihm ging es überhaupt nicht gut damit“, sagt Nataliia. Er sprach kein Deutsch, musste gleichzeit­ig online am Unterricht in der Ukraine teilnehmen. Sie musste ihn vom Gymnasium nehmen und meldete ihn zum Deutschler­nen an.

Eine Teilnahme am Regelunter­richt ist für ukrainisch­e Kinder in den Jahrgangss­tufen eins bis vier auch im kommenden Schuljahr geplant, gab Kultusmini­ster Michael Piazolo am Montag bekannt. Für die fünfte bis neunte Klasse sollen zur Sprachförd­erung „Brückenkla­ssen“eingericht­et werden: Mit zehn Wochenstun­den steht dort, integriert in den Lehrplan der jeweiligen Schulart, das Fach „Deutsch als Fremdsprac­he“auf dem Stundenpla­n.

Nataliias Sohn hat gerade erst einen Deutschtes­t bestanden, der ihm ein gutes Sprachnive­au bescheinig­t. Er kann im kommenden Schuljahr wieder am regulären Unterricht teilnehmen. Vorausgese­tzt, er und seine Mutter sind dann noch in Augsburg.

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Foto: Patrick Pleul, dpa (Symbolbild) Rund 139.000 Menschen aus der Ukraine haben sich seit Beginn des Kriegs in Bayern registrier­t, davon sind etwa 25.000 Kinder und Jugendlich­e an Schulen im Freistaat gemeldet.
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Nataliia Mazur

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