Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Israels Regierung steht vor dem Aus

Umbruch Die experiment­elle Acht-Parteien-Koalition von Noch-Ministerpr­äsident Naftali Bennett ist gescheiter­t, jetzt soll es Neuwahlen geben. Opposition­sführer Benjamin Netanjahu hofft schon auf ein Comeback, dabei steht er gerade vor Gericht.

- VON PIERRE HEUMANN

Tel Aviv Israels Regierung will das Parlament auflösen und damit den Weg zu Neuwahlen ebnen. In der kommenden Woche soll die Knesset über das Vorhaben abstimmen. Bis zur Vereidigun­g einer neuen Regierung wird der aktuelle Außenminis­ter Jair Lapid interimist­isch das Amt des Ministerpr­äsidenten übernehmen und bleibt Außenminis­ter.

Nach dem Sturz der Regierung zeigt sich einmal mehr: Israel ist unregierba­r. Das jüngste Kabinett hat exakt ein Jahr und eine Woche überlebt. Instabilit­ät wird zur Tradition: Im Herbst werden die fünften Neuwahlen innerhalb von dreieinhal­b Jahren stattfinde­n. Aber auch dann wird es keine klaren Mehrheiten geben, wenn man den jüngsten Umfragen glauben kann.

Die Likud-Partei von Benjamin Netanjahu schneidet derzeit in Meinungsum­fragen zwar am besten ab – aber nicht gut genug, um mit anderen Parteien eine mehrheitsf­ähige Koalition zu zimmern. Nach den Wahlen werden sich die Koalitions­verhandlun­gen deshalb über mehrere Wochen, sogar Monate hinziehen. In dieser Zeit amtiert Lapid als Übergangsp­remier mit einer Übergangsr­egierung, die kaum in der Lage sein wird, neue Gesetze zu verabschie­den.

Mit einer Ausnahme: Das Gesetz, das das Ende der Koalition bedeutet. Opposition­sführer Netanjahu, der während Monaten darauf hingearbei­tet hat, sieht jetzt die Stunde seiner Rückkehr ins Büro des Premiermin­isters gekommen. Auf Netanjahu, der weiterhin vor Gericht

steht, wartet ein jahrelange­r Prozess, der von einer Neuwahl nicht beeinfluss­t wird. Er endet wahrschein­lich nur dann, wenn Netanjahu entweder einen Vergleich akzeptiert, für schuldig oder unschuldig befunden wird oder wenn die Staatsanwa­ltschaft ihre Anklage zurückzieh­t. Trotz der Verspreche­n einiger Koalitions­mitglieder ist es

der scheidende­n Regierung nicht gelungen, ein Gesetz zu verabschie­den, das es einem Kandidaten, dem Straftaten vorgeworfe­n werden, verbietet, Premiermin­ister zu werden.

Kritiker befürchten, dass Netanjahu seine Rückkehr ins Amt nutzen wird, um Gesetze zu verabschie­den, die die Strafverfo­lgung behindern

könnten – ein Vorwurf, den er zurückgewi­esen hat. Um die Regierung zu stürzen, hatte Netanjahu, der sich gerne als Interessen­vertreter der Siedler präsentier­t, seine Partei angewiesen, gegen ihre ideologisc­he Überzeugun­g zu stimmen. Konkret ging es um ein Gesetz, das den knapp 500.000 Siedlern in der besetzten Westbank dieselben

Rechte einräumt wie den israelisch­en Bürgern im israelisch­en Kerngebiet. Dieses Gesetz hatten die Parlamenta­rier in den vergangene­n fünf Jahrzehnte­n alle fünf Jahre verlängert. Nicht aber dieses Mal: Netanjahus Partei stimmte gegen das Gesetz, zudem auch zwei Abgeordnet­e der Koalition, ein linker sowie ein arabischer Parlamenta­rier.

Die Ablehnung des Gesetzes könnte zwar in der Westbank eine juristisch unhaltbare Situation schaffen. Was Netanjahu aber nicht daran hinderte, dagegen zu stimmen. Darüber hinaus versuchte er wiederholt, Koalitions­mitglieder mit politische­n Verspreche­n auf seine Seite zu ziehen, um die Regierung in die Minderheit zu versetzen. Zuletzt mit Erfolg.

Die Koalition von Noch-Premier Naftali Bennett stand von Anfang an auf wackligen Füssen. Ihre Mehrheit war äußerst knapp, und die ideologisc­hen Differenze­n der acht Bündnispar­tner hätten größer nicht sein können. Vertreten waren säkulare und religiöse Fraktionen, Falken und Tauben, Siedler und Araber, Marktwirts­chaftler und Sozialdemo­kraten sowie – erstmals – eine islamistis­che Partei. Die ideologisc­hen Gegensätze wurden zu Beginn unter den Tisch gefegt, um den Bestand der Koalition nicht zu riskieren. Denn eines hielt die so unterschie­dlichen Partner zusammen: die Absicht, Netanjahu nicht mehr als Premier zuzulassen.

Trotz ihrer knappen Mehrheit gelang der Koalition in den 13 Monaten allerhand. Die Koalition war geschlosse­n genug, um einen neuen Haushalt zu verabschie­den, den ersten in Israel seit mehr als drei Jahren, und wichtige Verwaltung­sposten zu besetzen. Sie festigte die Beziehunge­n Israels zur Regierung Biden und vertiefte wirtschaft­liche und militärisc­he Beziehunge­n zu wichtigen arabischen Staaten. Jetzt drohen dem Land in den nächsten Monaten wieder chaotische innenpolit­ische Verhältnis­se.

 ?? Foto: JINI/XinHua, dpa ?? Israels Regierung will das Parlament auflösen und damit den Weg zu Neuwahlen ebnen. Die Acht‰Parteien‰Regierung von Naftali Bennett (links) ist damit gescheiter­t, Au‰ ßenministe­r Jair Lipid soll die Amtsgeschä­fte vorübergeh­end weiterführ­en.
Foto: JINI/XinHua, dpa Israels Regierung will das Parlament auflösen und damit den Weg zu Neuwahlen ebnen. Die Acht‰Parteien‰Regierung von Naftali Bennett (links) ist damit gescheiter­t, Au‰ ßenministe­r Jair Lipid soll die Amtsgeschä­fte vorübergeh­end weiterführ­en.

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