Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Wenn Hochbetagte ins Gefängnis müssen
Justiz Eine 87-Jährige soll ihre behinderte Tochter nach langer Pflege getötet haben. Ihre Anwältin möchte die Seniorin schnell aus der Haft bekommen und sagt: Totschlag war es nicht.
Ein Mensch ist gestorben, mutmaßlich durch die Hand eines anderen. Was Mitte Juni im Augsburger Stadtteil Hochfeld geschehen sein soll, ist extrem, so oder so. Und doch erreichen die Umstände, von denen die Ermittlungsbehörden derzeit ausgehen, noch mal eine besondere Dimension. Nach lebenslanger Pflege soll eine 87-jährige Frau ihre 57-jährige schwerbehinderte Tochter in der gemeinsamen Wohnung erdrosselt haben, anschließend soll die Frau versucht haben, sich selbst das Leben zu nehmen. Der Versuch misslang. Und so sitzt die 87-Jährige seit rund eineinhalb Wochen in Untersuchungshaft. Nach dem Willen ihrer Anwältin soll die Seniorin dort allerdings nicht lange bleiben.
Wie Verteidigerin Cornelia McCready auf Anfrage sagt, habe sie Haftprüfung beantragt. Sie möchte also, dass ihre Mandantin möglichst schnell wieder aus dem Gefängnis kommt. Bislang gehen die Ermittlungsbehörden von einem Fall des Totschlags aus, so lautet der Haftbefehl, den die Staatsanwaltschaft Augsburg erwirkte. Anwältin McCready sagt allerdings, aus ihrer Sicht seien die Umstände der Tat so, dass ein Totschlag nicht gegeben sei. Es handele sich um eine Tötung auf Verlangen. Dies würde den Fall nicht nur in einem anderen Licht erscheinen lassen, bedeutete es doch, dass die stark pflegebedürftige 57-Jährige gegenüber ihrer Mutter kommuniziert hätte, sterben zu wollen – es bliebe juristisch auch ein wesentlich geringerer Vorwurf übrig. Denn Totschlag ist ein Verbrechen, Tötung auf Verlangen ein Vergehen; die mögliche Strafe in einem Prozess fiele wohl geringer aus.
Wobei noch unklar ist, ob dieser Fall, der womöglich mit den Mitteln der Strafverfolgung ohnehin nur bedingt fassbar ist, überhaupt einmal vor Gericht gebracht wird. Von der Augsburger Staatsanwaltschaft heißt es auf Anfrage, der Sachstand sei „derzeit noch unverändert“, vor dem Hintergrund der noch laufenden Ermittlungen könnten derzeit keine weiteren Auskünfte erteilt werden.
Im Internet sowie in der Nachbarschaft äußern viele Menschen Mitgefühl mit der 87-Jährigen, die nach In
formationen unserer Redaktion seit Jahrzehnten im Stadtteil lebte, zuletzt in einem unscheinbaren Mehrparteienhaus ohne Fahrstuhl. Viele Menschen im Viertel kannten offenbar die Seniorin, die auch in hohem Alter noch ihre Tochter im Rollstuhl umherschob. Und nun im Gefängnis sitzt. Sie ist damit bayernweit eine absolute Ausnahme. Fälle von hochaltrigen Menschen hinter Gittern, ob als verurteilte Strafgefangene oder als Untersuchungshäftlinge, deren Prozess noch bevorsteht, sind in Bayern äußerst selten – und stellen Gefängnisse vor besondere Herausforderungen.
Wie alt Häftlinge in Bayern sind, erfasst die sogenannte Strafvollzugsstatistik des Bayerischen Landesamts für Statistik. In der aktuellsten Version mit Stichtag 31. März 2021 waren 468 der knapp 9600 Gefangenen und Sicherungsverwahrten in
Bayern 60 Jahre alt oder älter. Davon war niemand 90 Jahre oder älter. Die Zahl der 80- bis 89-Jährigen lag bei 17 – eine Frau, 16 Männer. Die Zahl hochaltriger Menschen im Gefängnis ist also sehr gering. Jedoch: „Der demografische Wandel macht vor dem Justizvollzug nicht halt“, wie ein Sprecher des bayerischen Justizministeriums gegenüber unserer Redaktion erklärt. „Auch in den bayerischen Justizvollzugsanstalten gibt es mehr ältere Gefangene als früher.“
Und darauf muss der Freistaat reagieren. In der JVA Würzburg etwa sind in einer eigenen Abteilung bis zu elf männliche Senioren ab 60 Jahren untergebracht. Sie sind körperlich eingeschränkt und würden, so der Sprecher des Justizministeriums, „im Kreis der übrigen, überwiegend weit jüngeren Gefangenen
gegebenenfalls nicht zurechtkommen.“
Die Hafträume dieser Abteilung seien altersgerechter und teilweise barrierefrei gestaltet. Eine ähnliche Abteilung hat auch die JVA St. Georgen-Bayreuth, in der neuen JVA Marktredwitz (Landkreis Wunsiedel) soll eine geriatrische Abteilung mit 24 Haftplätzen speziell für ältere männliche Gefangene entstehen. Verteilt auf 13 Justizvollzugsanstalten gibt es zudem bayernweit 58 behindertengerechte Haftplätze, in denen bei Bedarf auch ältere Strafgefangene untergebracht werden können.
Grundsätzlich, erklärt der Sprecher des Justizministeriums, „handelt es sich bei den älteren Strafgefangenen erfahrungsgemäß um eine recht inhomogene Gruppe“. Entscheidend für die Anforderungen an Betreuung, bauliche Einrichtung und medizinische Versorgung sei jedoch nicht das Lebensalter an sich,
sondern der jeweilige Gesundheitszustand der Gefangenen. Wo und wie die Betroffenen untergebracht würden, entscheide sich jeweils nach Einzelfall.
Wilfried Schmalzbauer leitete bereits mehrere Gefängnisse in Bayern, seit Mai das in Aichach - und damit das größte Frauengefängnis im Freistaat. Ob die 87-jährige Augsburgerin dort untergekommen ist, möchte er auf Nachfrage mit Verweis auf Persönlichkeits- und Datenschutz nicht bestätigen. Grundsätzlich sei man aber auf hochaltrige und pflegebedürftige Gefangene vorbereitet. Für sie gebe es einen eigenen Bereich in unmittelbarer Nähe der Krankenabteilung. So könne man im Bedarfsfall schnell reagieren. Bei allen Gefangenen müsse man jedoch Rücksicht auf die individuelle Situation nehmen.