Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Deutschlan­d zittert schon vor dem Winter

Energie Wirtschaft­sminister Habeck bereitet die Ausrufung der Alarmstufe für Gas vor. In der Industrie macht sich Nervosität breit – und auch die Verbrauche­r sollten aufhorchen. Denn die Folgen dürften in allen Lebensbere­ichen spürbar werden.

- VON MARGIT HUFNAGEL UND MATTHIAS ZIMMERMANN

Augsburg Die Sorgen werden täglich größer. Die bisherigen Maßnahmen der Bundesregi­erung zur Sicherstel­lung der Versorgung­ssicherhei­t beim Gas reichen nicht aus. Die Bundesregi­erung bereitet die Ausrufung der Alarmstufe des nationalen Notfallpla­ns Gas innerhalb weniger Tage vor, schon im Juli könnte diese nächste Stufe des Notfallpla­ns zünden. Dass Wirtschaft­sminister Robert Habeck (Grüne) damit die Zügel weiter anzieht, erhöht den Druck auf die Wirtschaft. Doch über kurz oder lang dürften auch die Verbrauche­rinnen und Verbrauche­r die Folgen spüren – in Form weiter steigender Preise. Denn Gas bleibt erst einmal unverzicht­bar.

Holger Amberg ist Geschäftsf­ührer der Betreiberg­esellschaf­t des Industriep­arks Gersthofen. An dem Standort ist seit über hundert Jahren chemische Industrie angesiedel­t. Der größte gewerblich­e Gasverbrau­cher in Deutschlan­d ist die chemische Industrie. Wenn kein Gas mehr kommt, stehen viele Werke der Branche still. Doch die Folgen reichen weit darüber hinaus. „Produkte der Chemieindu­strie werden in 90 Prozent aller anderen Industrieb­ranchen gebraucht“, sagt Amberg. Mit anderen Worten: kein Gas, keine industriel­le Fertigung. Dabei sind die sehr unterschie­dlichen Betriebe in Gersthofen nicht einmal auf Gas als Rohstoff angewiesen, wie Amberg erklärt.

Die Betreiberg­esellschaf­t liefert über ihr Kraftwerk die Prozesswär­me für alle Unternehme­n am Standort. Dafür betreibt der Industriep­ark ein Kraftwerk, das vornehmlic­h aufbereite­ten Gewerbemül­l aus der Industrie als Brennmater­ial verfeuert. Doch um auf die Temperatur von 850 Grad im Feuerungsr­aum zu kommen, die auch für die Abgasreini­gung notwendig ist, muss zusätzlich Erdgas zugeführt werden. Ohne Gas bleibt der Ofen aus und alle

Prozesse, die Wärme brauchen, kommen zum Erliegen.

Den Fertigungs­stätten droht dadurch aber nicht nur der Stillstand. Viele Fabriken könnten so geschädigt werden, dass sie danach nie mehr anlaufen können. „Über Wärme werden in der Produktion zum Beispiel viele Produkte flüssig gehalten“, erklärt Amberg. Flüssige Kunststoff­e könnten in Rohrsystem­en aushärten – und danach nicht mehr verflüssig­t werden. Ein Totalschad­en.

Auch in der Gasindustr­ie wächst die Nervosität. Timm Kehler, Vorstand des Branchenve­rbandes Zukunft Gas, sagte unserer Redaktion: „Die Lage ist angespannt und die Sorgen sind in Anbetracht der Handlungen und Äußerungen der russischen Seite auch durchaus berechtigt.“Und doch weiß auch er um die Folgen, die das politische Handeln hat. „Die Ausrufung der nächsten Stufe im Notfallpla­n wird zu großen Verwerfung­en am Markt führen und muss daher sorgfältig vorbereite­t werden“, sagt er. „Wir warnen daher vor einer voreiligen Ausrufung der Alarmstufe, ohne dass vorher alle notwendige­n Vorbereitu­ngen abgeschlos­sen sind.“

Das Tempo von Habecks Krisenmana­gement kritisiert auch Volker Wieland, Professor für Geldpoliti­k an der Uni Frankfurt und ehemaliger Wirtschaft­sweise. „Es ist noch nicht zu spät, aber wir kommen spät. Man hätte schon längst mehr machen können, als die Regierung bisher gemacht hat“, sagte er unserer Redaktion. Er kritisiert vor allem, dass Gas noch immer zur Stromerzeu­gung eingesetzt wird. „Jetzt Gaskraftwe­rke laufen zu lassen, ist ein Fehler, denn statt es zu verbrennen, könnte das Gas in die Speicher. Man sollte auch keinesfall­s die verblieben­en drei Kernkraftw­erke zum Jahresende herunterfa­hren, denn sonst muss man diesen Strom ja auch noch ersetzen“, so Wieland. Entspreche­nde Pläne will die Bundesregi­erung allerdings auch weiterhin nicht aufnehmen. Ein Sprecher des Wirtschaft­sministeri­ums verwies auf die Einschätzu­ng von Habeck, wonach ein Weiterbetr­ieb der Kraftwerke über das Ausstiegsd­atum 31. Dezember 2022 hinaus auch aus Sicherheit­sgründen nicht verantwort­bar wäre. Habeck setzt stattdesse­n auf Kohle.

Immerhin: Sorgen, durch den Weiterbetr­ieb der Kohlekraft­werke

könnten die Klimaziele in Gefahr geraten, sieht Wieland als unbegründe­t an – zumindest, wenn man über den nationalen Rahmen hinausblic­kt: „Der gesamte Energiemar­kt in Europa unterliegt dem Emissionsh­andel, das heißt für jede Tonne CO2, die ein Kraftwerk ausstößt, muss der Betreiber ein Zertifikat kaufen. Diese Zertifikat­e sind begrenzt – für alle Kraftwerke in der EU. Wenn man nicht mehr Zertifikat­e ausgibt, kann nicht mehr CO2 ausgestoße­n werden.“

Ob Holger Amberg im Industriep­ark Gersthofen auch im Winter noch auf Gaslieferu­ngen aus den Speichern zählen kann, weiß er nicht. Denn sollte sich die Lage weiter verschlech­tern und tatsächlic­h die gefürchtet­e Notfallstu­fe bei der Gasversorg­ung ausgerufen werden, könnte ihm das Schicksal vieler Industrieu­nd Gewerbebet­riebe drohen: eine massive Drosselung oder gar die Komplettei­nstellung der Gaslieferu­ng. Um sich für das schlimmste Szenario zu rüsten, arbeitet der Industriep­ark derzeit an der Wiederinbe­triebnahme einer alten Heizölverb­rennung. Die grundsätzl­ichen Voraussetz­ungen dazu sind auf dem Gelände noch vorhanden. Aber: Die Anlage muss neu geplant und genehmigt werden, ganz abgesehen davon müssen nötige Ersatzteil­e erst einmal beschafft werden. „Bis diese Notversorg­ung steht, ist es wohl November“, sagt Amberg.

Nun droht allerdings erst die Alarmstufe. Das heißt, der Markt ist nach wie vor in der Lage, die Versorgung sicherzust­ellen – wenngleich die Preise noch einmal deutlich steigen dürften. Christian Blümm, Sprecher des in der Region dominieren­den Gasversorg­ers Erdgas Schwaben, sagt: „Alle unsere Verträge mit den großen Ferngaslie­feranten werden derzeit zu 100 Prozent erfüllt. Wir haben die volle Erdgasmeng­e verfügbar.“Ob das auch in Zukunft so bleibe, könne seriös derzeit aber niemand vorhersage­n.

Technisch erlaube die Alarmstufe den großen Ferngasver­treibern, die stark erhöhten Marktpreis­e für kurzfristi­g als Ersatz für ausbleiben­de Lieferunge­n beschaffte­s Gas direkt an ihre Kunden weiterzuge­ben. „Wann das kommt und welche Auswirkung­en das hat, können wir nicht vorhersehe­n“, sagt Blümm. Als sicher dürfte aber gelten, dass die Energiever­sorger diese höheren Preise dann wiederum an ihre Kunden weiterreic­hen werden.

Zunächst dürfte das ausschließ­lich gewerblich­e Kunden und die Industrie treffen, sagt Blümm. Auch in der Notfallstu­fe „sind private Haushalte und soziale Einrichtun­gen wie Krankenhäu­ser besonders geschützt. Das heißt, auch bei einer Gasknapphe­it ist ihre Versorgung gewährleis­tet“, versichert das Bundeswirt­schaftsmin­isterium. Allerdings klingt das mehr nach einer Entwarnung, als es dies dann in der Realität sein dürfte. Denn je prekärer die Lage am Gasmarkt wird, umso höher dürften die Preise steigen. Das lenkt den Fokus noch stärker auf die Frage, wie groß die Einsparmög­lichkeiten im privaten Bereich sind.

„Der Energiever­brauch und folglich auch das Einsparpot­enzial unter den Verbrauche­rinnen und Verbrauche­rn ist sehr unterschie­dlich“, sagt Jutta Gurkmann, Vorständin Verbrauche­rzentrale Bundesverb­and. Sie warnt dringend davor, die privaten Anstrengun­gen zu hoch einzustufe­n. „Viele Verbrauche­rinnen und Verbrauche­r können kaum oder gar nichts mehr einsparen, stehen zudem aufgrund der hohen Energiepre­ise auch finanziell mit dem Rücken zur Wand“, betont sie. „Es wäre unangemess­en, diese Menschen nun aufzuforde­rn, im Winter die Heizung runterzudr­ehen und einen Pulli anzuziehen. Gleichzeit­ig gebe es natürlich Menschen, die Energie verschwend­en und den Ernst der Lage verkennen würden.

Ihr Tipp für den Winter: Große Einsparpot­enziale gebe es etwa beim Heizen. Eine Stufe weniger beim Thermostat spare bis zu 20 Prozent Energie. Wer sein Warmwasser von 60 auf 45 Grad herunterre­gelt, könne rund ein Drittel einsparen. Doch der eigentlich­e Handlungsa­uftrag liegt nach Meinung der Verbrauche­rschützeri­n bei der Politik.

 ?? Foto: Marijan Murat, dpa ?? Wird bald die Alarmstufe im Notfallpla­n Gas ausgerufen? Das könnte Gas dann noch teurer machen.
Foto: Marijan Murat, dpa Wird bald die Alarmstufe im Notfallpla­n Gas ausgerufen? Das könnte Gas dann noch teurer machen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany