Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Historisch in jeder Hinsicht
Europa Es ist offiziell: Beim EU-Gipfel werden die Ukraine und Moldau zu Beitrittskandidaten. Weniger zufrieden zeigten sich die Staaten des Westbalkans. Wieder einmal gab es keine Fortschritte im Annäherungsprozess an die EU.
Brüssel Es gab während des EUGipfels kaum ein Statement, das ohne die Beschreibung „historisch“auskam. Nicht nur, dass Bundeskanzler Olaf Scholz von einer „historischen“Zusammenkunft sprach. Am Ende war das inflationär gebrauchte Adjektiv angesichts der Entscheidung der 27 Staats- und Regierungschefs sogar angebracht: Sie erklärten am Donnerstagabend die Ukraine und Moldau offiziell zu EU-Beitrittskandidaten. Einem Land im Krieg wird dieser Status verliehen, das gab es noch nie – „ein historischer Moment“, so Ratspräsident Charles Michel auf Twitter.
„Die Zukunft dieser Staaten und ihrer Bürger liegt in der Europäischen Union“, lautete die Begründung im Gipfelbeschluss. Gleichwohl würden die Fortschritte der einzelnen Länder auf dem Weg in die Gemeinschaft davon abhängen, „inwieweit sie die Kopenhagener Kriterien erfüllen und inwieweit die EU in der Lage ist, neue Mitglieder aufzunehmen“. Das wiederum heißt übersetzt, dass es noch sehr lange – mindestens Jahre, wahrscheinlicher sogar Jahrzehnte – dauern dürfte, bis die beiden Länder als Vollmitglieder in die europäische Familie aufgenommen werden. Tatsächlich sind die Hürden hoch. Zu den Aufnahmebedingungen, also den sogenannten Kopenhagener Kriterien, gehören unter anderem Rechtsstaatlichkeit und Wirtschaftsreformen, die für eine Integration an den europäischen Binnenmarkt sorgen sollen. Erst im März, kurz nach der Invasion der russischen Truppen, hatte Kiew einen Aufnahmeantrag gestellt. Seitdem machte die Regierung unter Präsident Wolodymyr Selenskyj Druck. Vergangene Woche hatte die EU-Kommissionschefin
Ursula von der Leyen mit gewohntem Pathos die Verleihung des Kandidatenstatus formell empfohlen. „Wir wollen, dass sie mit uns den europäischen Traum leben“, schmückte die Deutsche ihre Rede. Es sei eine wichtige symbolische Botschaft, sagte Belgiens Premierminister Alexander De Croo, warnte aber vor überhöhten Erwartungen. Der Weg zur Mitgliedschaft „liegt noch in weiter Ferne“.
Trotzdem wird in Brüssel bereits von einer Zeitenwende gesprochen. Die Frage blieb, wie man die beitrittswilligen Länder künftig enger an sich binden kann, ohne ihnen die Vollmitgliedschaft zu gewähren. Dementsprechend diskutierten die Staatenlenker während des zweitägigen Gipfels auch Optionen, wie die Zukunft der Union aussehen könnte. Konkrete Antworten wurden jedoch nicht erwartet.
SPD-Politiker Scholz betonte jedoch, man müsse zunächst interne Reformen durchführen, um „uns erweiterungsfähig zu machen“. Dazu gehöre, das Prinzip der Einstimmigkeit für einige Entscheidungen aufzuheben. Wie nämlich würden die Partner jemals einen Konsens finden, wenn sie den Kreis der 27 ausweiten und dann sogar noch mehr Meinungen in Beschlüssen bündeln müssten? Schon jetzt sorgt das Einstimmigkeitsprinzip bei wichtigen Entscheidungen, etwa bei finanz- und außenpolitischen Fragen, für ständige Streitereien und bremst die Handlungsfähigkeit der Gemeinschaft aus.
Indem sich die 27 also zum Abschluss des ersten Gipfeltags auf die Schultern klopfen durften und sich für die EU-untypische Einigkeit und Geschlossenheit beinahe schon feierten, verblasste ein ebenfalls als „historisch“bezeichneter Donnerstagvormittag – „historisch im negativen Sinne“, wie Albaniens Ministerpräsident Edi Rama schimpfte. Dem eigentlichen EU-Treffen ging die Zusammenkunft der EU-Spitzen mit den Staaten des westlichen Balkans voraus. Eingeladen waren Albanien, Nordmazedonien, Serbien sowie Bosnien-Herzegowina, der Kosovo und Montenegro. Alle sechs Länder befinden sich in unterschiedlichen Phasen des Annäherungsprozesses an die EU. Doch nach fast vierstündigen Gesprächen verabschiedete man sich ohne Fortschritte. Stillstand, wie seit Jahren.
Die Eröffnung der Beitrittsgespräche mit Nordmazedonien und Albanien wird nun durch Bulgarien blockiert. Die Regierung in Sofia fordert, dass Nordmazedonien vor der Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen die bulgarischen Wurzeln in seiner Sprache und Geschichte sowie Rechte der bulgarischen Minderheit anerkennen solle. Bulgariens Premier Kiril Petkow bekräftigte gestern, dass er das Veto gegen den Nachbarn aufrechterhalten werde. Den Widerstand verurteilte Rama als „Schande“. Ein
Nato-Land nehme „zwei andere Nato-Länder – Albanien und Nordmazedonien – inmitten eines heißen Kriegs in Europa in Geiselhaft“, sagte er. Und die anderen 26 sähen dem „in einer furchterregenden Show der Impotenz“zu.
Zum Abschluss gab es keine Erklärung zum Westbalkan, die geplante Pressekonferenz mit EURatspräsident Michel, dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und EU-Kommissionschefin von der Leyen wurde kurzfristig abgesagt, angeblich aus Zeitgründen, vermutlich auch aus Selbstschutz. Was hätten sie auch mitzuteilen gehabt? Ihnen habe man vonseiten von Scholz, von der Leyen und Co. versichert, so berichtete Rama, „dass sie Mitleid mit uns haben, weil sie nicht liefern konnten“. Dabei habe der Albaner eher Mitleid mit der Europäischen Union. „Da ist etwas kaputt in den Mechanismen.“
Kanzler Scholz mahnt schon länger, dass die sechs Staaten Priorität haben müssten. „Wir fühlen uns verantwortlich dafür, dass die Länder Erfolg haben mit ihren Bemühungen“, sagte er. Sie müssten endlich das Gefühl bekommen, dass ihre Reformanstrengungen belohnt würden. Stattdessen fuhren sie wieder voller Frust zurück nach Hause.
Präsident Selenskyj macht Druck
Politiker der Balkanländer sind wütend