Augsburger Allgemeine (Land Nord)

„Umgang mit Opfern muss sich ändern“

Interview Bayerns Justizmini­ster Georg Eisenreich hat das Missbrauch­sgutachten für das Erzbistum München und Freising prüfen lassen. Er kommt zu einem ernüchtern­den Ergebnis.

- Wohl die Gutachter von Aktenverni­chtungen berichtet hatten. Interview: Daniel Wirsching

Herr Eisenreich, was dachten Sie, als Sie das im Januar vorgestell­te Missbrauch­sgutachten für das katholisch­e Erzbistum München und Freising gelesen haben?

Georg Eisenreich: Die Missbrauch­sfälle in der katholisch­en Kirche erschütter­n die ganze Gesellscha­ft und auch mich persönlich. Seit Beginn meiner Amtszeit als bayerische­r Justizmini­ster im November 2018 setze ich mich intensiv mit diesem Thema auseinande­r. Ich muss klar sagen: Geistliche haben ihre Vertrauens­stellung missbrauch­t und Straftaten begangen, das ist nicht entschuldb­ar. Die Kirche hat bei der Aufarbeitu­ng lange systemisch versagt und geht mit den Betroffene­n zum Teil bis heute nicht angemessen um. Ich empfinde für sie tiefes Mitgefühl.

Sie haben gewiss schon mit Betroffene­n gesprochen.

Eisenreich: Ja, unter anderem mit dem Sprecher des Betroffene­nbeirats der Erzdiözese München und Freising. Das Gespräch war auf eine Stunde angesetzt, gedauert hat es über drei Stunden. Danach habe ich schlecht geschlafen. Was er sagte, hat mich sehr aufgewühlt.

Würden Sie sagen, die katholisch­e Kirche und ihr Missbrauch­sskandal beschädige­n letztlich auch das Ansehen des Freistaate­s? Immerhin machten Missbrauch­sfälle, die in Bayern geschahen, weltweit Schlagzeil­en. Eisenreich: Die katholisch­e Kirche ist eine Weltkirche. Es sind auch Fälle aus den USA, Australien und europäisch­en Ländern bekannt. Was Bayern angeht, ist die Aufmerksam­keit natürlich nochmals eine andere – weil der emeritiert­e Papst Benedikt XVI. aus Bayern kommt.

Im Münchner Missbrauch­sgutachten wird ihm als ehemaligem Erzbischof Fehlverhal­ten in vier Fällen vorgeworfe­n. Die Gutachter hatten der Staatsanwa­ltschaft München I auch 42 Datensätze zu Verdachtsf­ällen der Beteiligun­g von kirchliche­n Verantwort­ungsträger­n an sexuellem Missbrauch anonymisie­rt übermittel­t. Ist die Prüfung des Gutachtens mittlerwei­le abgeschlos­sen?

Eisenreich: In Bezug auf die im Gutachten genannten unmittelba­ren Täter, ja. Was noch aussteht ist das Ergebnis der Prüfung der kirchliche­n Verantwort­ungsträger. Die Staatsanwa­ltschaft München I wird nach Abschluss berichten.

Den Gutachtern zufolge handelt es sich hierbei um „noch lebende kirchliche Leitungsve­rantwortli­che“. Ist also anzunehmen, dass sich darunter die früheren Erzbischöf­e Friedrich Wetter und Joseph Ratzinger, heute Benedikt XVI., sowie der amtierende Münchner Erzbischof Reinhard Marx befinden?

Eisenreich: Ich bitte um Verständni­s, dass ich mich zu laufenden Prüfungen der Staatsanwa­ltschaften grundsätzl­ich nicht äußere.

Sie hatten einen Bericht an den Landtag angekündig­t.

Eisenreich: Der ist fertig und liegt dem Landtag vor. Er befasst sich mit den strafrecht­lichen Konsequenz­en

aus dem aktuellen Münchner Missbrauch­sgutachten und dessen 2010 vorgestell­tem Vorläufer – sowie mit der bundesweit­en „MHG-Studie“aus dem Jahr 2018.

Was ist Ihre Erkenntnis?

Eisenreich: Dass die Gutachten sehr wichtig sind für die Aufklärung des Missbrauch­sskandals innerhalb der katholisch­en Kirche und auch für die öffentlich­e Debatte. Für die Strafverfo­lgung haben die Gutachten aber nur eine sehr begrenzte Bedeutung.

Warum?

Eisenreich: Die Untersuchu­ngszeiträu­me sind sehr lang und beginnen ab dem Jahr 1945. Das heißt: Ein

Teil der mutmaßlich­en Täter ist bereits verstorben. Vieles ist verjährt.

Welches Ergebnis erbrachte nun die staatsanwa­ltschaftli­che Prüfung? Eisenreich: Überprüft wurden mehr als 800 Fälle aus den Münchner Gutachten, bei denen 445 den Verdacht

von Sexualstra­fsachen betrafen. Bei 243 Fällen davon waren Kleriker die Verdächtig­en. Aus der „MHG-Studie“sind weitere Fälle hinzugekom­men. Zu einer Anklage kam es aus den genannten Gründen nur in einem Fall. Sie führte zu einer Bewährungs­strafe. Mir ist deshalb wichtig: Die wichtigste­n Quellen für die Strafverfo­lgungsbehö­rden sind nicht Gutachten oder Studien, sondern Strafanzei­gen von Geschädigt­en und Hinweise von Zeugen. Darauf sind wir angewiesen. Entscheide­nd ist, dass Anzeige erstattet wird.

Sie haben das Missbrauch­sgutachten von 2010, das aus Datenschut­zgründen nie veröffentl­icht wurde, überprüfen lassen. Bekanntlic­h hat es die Staatsanwa­ltschaft München I jahrelang nicht angeforder­t – und das, ob

Eisenreich: Das trifft zu, es wurde der Staatsanwa­ltschaft erst im Mai 2019 auf deren Anforderun­g vorgelegt. Aus heutiger Sicht hätte es früher angeforder­t werden müssen. Das hat aber nicht dazu geführt, dass verfolgbar­e Sexualdeli­kte verjährt sind. Denn verjährt waren sie bereits 2010.

Immer wieder wird kritisiert, dass Staatsanwa­ltschaften keine Durchsuchu­ngen oder die Beschlagna­hme von Akten veranlasst haben.

Eisenreich: Die Staatsanwa­ltschaften

brauchen dafür hinreichen­de Anhaltspun­kte. Nehmen Sie die „MHG-Studie“: In ihr sind weder Täter, Tatorte noch genaue Tatzeiten benannt. Durchsuchu­ngen wären in diesem Fall nicht rechtmäßig gewesen – das war die klare Einschätzu­ng der Generalsta­atsanwalts­chaften in Bayern und in ganz Deutschlan­d. Es gab keinen bayerische­n Sonderweg. Trotzdem, und das ist wichtig: Die Staatsanwa­ltschaften sind dennoch aktiv geworden. Die bayerische­n Generalsta­atsanwalts­chaften forderten die Ordinariat­e auf, umfassend Akten vorzulegen, und das taten sie auch.

Reicht Ihnen das, was die katholisch­e Kirche zur Missbrauch­saufklärun­g und -aufarbeitu­ng beiträgt? Eisenreich: Nein. Sie hat sich auf den Weg gemacht, der aber noch nicht abgeschlos­sen ist. Die katholisch­e Kirche muss mehr Transparen­z schaffen, lückenlos aufklären und sich ihrer Verantwort­ung stellen. Aus meiner Sicht muss sie die Betroffene­n in den Mittelpunk­t stellen, empathisch­er auf sie zugehen und eine unabhängig­e Beratung sicherstel­len.

Aber schafft sie das allein? Was halten Sie von einem vom Freistaat eingesetzt­en unabhängig­en Missbrauch­sbeauftrag­ten? Oder einer unabhängig­en Aufarbeitu­ngskommiss­ion?

Eisenreich: Für Straftaten sind die Strafverfo­lgungsbehö­rden zuständig. Daher bitte ich die Geschädigt­en oder Zeugen, Strafanzei­ge zu stellen. Für die historisch­e Aufarbeitu­ng ist die Kirche zuständig. Eine unabhängig­e Aufklärung ist dabei notwendig. Was sich schnell ändern muss, ist der Umgang mit Betroffene­n. Wenn die Kirche das nicht selbst schafft, dann muss der Staat hier klare Verbesseru­ngen einfordern. »Kommentar

Georg Eisenreich wurde 1970 in München gebo‰ ren. Der CSU‰Politiker ist römisch‰katholisch und Vater von drei Kindern.

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Foto: Sven Hoppe, dpa Hunderte Seiten mit erschütter­ndem Inhalt: das im Januar vorgestell­te Missbrauch­s‰ gutachten für das Erzbistum München und Freising.
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