Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Spielt Tschaikowsky!
Paavo Järvi mit dem Tonhalle-Orchester
Auf des Menschen Weg zu Aufklärung, Toleranz, Geschichtsbewusstsein gibt es noch erhebliche Hürden. Peter Tschaikowsky ist ein Leidtragender dabei – wie sich seit Jahren zeigt. In Russland ist er zwar geschätzt, aber Hinweise auf seine homoerotischen Neigungen werden nationaler (Selbst-)Beschmutzung gleichgesetzt. Dazu kommt der Angriffskrieg in der Ukraine – und was wird allen Ernstes erwogen, ja – wie bei den Festspielen St. Gallen – teils auch in die Tat umgesetzt? Ein Bogen um russische Kultur, ein Bogen um Tschaikowsky und seine Oper „Die Jungfrau von Orléans“. Unter freiem Himmel sei sie im Gegensatz zu Verdis Stoff-Vertonung unzumutbar. Orléans liegt zwar bekanntermaßen in Frankreich, aber die Musik von Tschaikowsky sei stolz und russisch. Unzumutbar für zufällige Open-Air-Zaungäste? Und das ukrainische Parlament verfügte soeben gleichfalls eine Ächtung russischer Musik. Man reibt sich verwundert die Augen und möchte Petitionsbriefe pro Tschaikowsky formulieren: Spielt den vor 129 Jahren verstorbenen Komponisten! Und lest seine Zeitgenossen weiter!
Immerhin gibt die nämliche Schweiz dieser Tage von anderer Seite den Anlass, sich Tschaikowsky in sinfonischer Gänze anzueignen: Mit der Veröffentlichung dessen erster und dritter Sinfonie, die so häufig ja nicht im Konzert zu hören sind, komplettiert das Tonhalle-Orchester Zürich seinen Zyklus aller Tschaikowsky-Sinfonien, denen jeweils immer noch kürzere Werke beigesellt sind – wie jetzt der ersten „Winterträume“-Sinfonie das „Capriccio italien“und der dritten „polnischen“Sinfonie die Polonaise aus „Eugen Onegin“. Dirigent ist der Este Paavo Järvi, Chef in Zürich und Sohn des großen Neeme Järvi. In den „Winterträumen“lässt er das Elegische mit eher weichem, verhangenem Orchesterklang herausarbeiten; mehr Pathos und Schmiss lässt er der Dritten angedeihen. Triumphales dann erklingt im Krönungsmarsch für Zar Alexander III., ein Stück, von dem Tschaikowsky selbst abrückte: „lärmend, aber schlecht.“Vielleicht ist es gerade deshalb der einschätzenden Beachtung wert. (rh) ★★★✩✩