Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Wie groß ist Putins Erfolg im Donbass wirklich?
Konflikt
Am 24. Juni ist Russlands Überfall auf die Ukraine genau vier Monate her – und gerade an diesem Tag muss sich die ukrainische Armee im Osten des Landes in der Großstadt Sjewjerodonezk geschlagen geben. Was das für den Kriegsverlauf heißen könnte.
Kiew/Augsburg Auf den Bildern ist Rauch und Feuer zu sehen. Diejenigen, die noch in der Stadt verharren, leben in einem regelrechten Trümmerfeld. Aus Häusern wurden Ruinen, durchsiebt vom Artilleriebeschuss. 54 Krater hat ein Oberst nach dem jüngsten Angriff gezählt. Seit Wochen kämpfen russische und ukrainische Truppen um Sjewjerodonezk. Die Industriestadt liegt ganz im Osten der Ukraine und gehörte zu den letzten Teilen von Luhansk, die noch nicht erobert waren. Der Donbass, zu dem das Gebiet gehört, war ohnehin seit Jahren in Teilen von Separatisten besetzt. Nun gibt Kiew zumindest Sjewjerodonezk verloren, zieht seine Soldaten zurück. „Es ist jetzt eine Situation, in der es keinen Sinn macht, in zerschlagenen Stellungen auszuharren“, sagte der Gouverneur des Gebiets Luhansk, Serhij Hajdaj, am Freitag im Fernsehen. Die Zahl der Toten würden dann stark steigen. „Deshalb haben unsere Verteidiger, die dort sind, bereits den Befehl erhalten, sich in neue Positionen zurückzuziehen und von dort aus normale, vollwertige Militäroperationen durchzuführen.“Die Gefahr, dass die Männer in einer Art Kessel landen, umzingelt von Russland, war zu groß. Auch in der Zwillingsstadt Lyssytschansk, die auf der anderen Seite des Flusses liegt, dürfte das gleiche Szenario bevorstehen.
Für den Kreml ist der Fall von Sjewjerodonezk ein Erfolg - doch wie groß ist er wirklich? „Die Aufgabe der Stadt ist zwar bedauerlich, aber sie bedeutet nicht viel für den weiteren Kriegsverlauf“, sagt Joachim Krause, der das Institut für Sicherheitspolitik in Kiel leitet. Die Stadt sei strategisch schlicht nicht relevant. „Die Aufgabe der Stadt zeigt, dass die Russen mit ihrer aus dem Zweiten Weltkrieg stammenden Taktik der durch massive Artillerieschläge vorbereiteten Angriffe zwar gegen die Ukrainer Geländegewinne erzielen können, aber die Größenordnung der Gewinne bleibt begrenzt“, sagt Krause. „Und solange sie keine größeren Verbände der ukrainischen Streitkräfte einschließen können, wird das den
Kriegsverlauf auch nicht ändern.“Krause setzt die Gewinne und Verluste ins Verhältnis: Im Raum Charkiw und im Süden hätten die ukrainischen Verbände in den vergangenen sechs Wochen mehr Gelände zurückgewonnen als sie gegen die Russen im Donbass verloren haben, so der Sicherheitsexperte.
Allerdings gilt auch: Sollte Luhansk komplett fallen, hätte der Kreml eines seiner wichtigsten Kriegsziele erreicht. Schon seit Wochen konzentriert sich seine Armee auf Angriffe im Donbass. Kurz vor dem Überfall Ende Februar hatte Putin das Separatistengebiet Luhansk unter großem internationalen Protest als unabhängige „Volksrepublik“anerkannt, ebenso wie das Nachbargebiet Donezk. Beide Regionen will Moskau offiziell von ukrainischen Nationalisten „befreien“. In Donezk immerhin kontrollieren die Ukrainer noch rund 40 Prozent des Territoriums. Nächster Schritt von Putin dürfte es nun sein, die Oblast Luhansk schnellstmöglich an Russland anzugliedern. Zumindest für eventuelle Friedensverhandlungen könnte dies wichtig sein. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte wiederholt darauf hingewiesen, dass es ihm darum geht, die komplette Ukraine zurückzuerobern. Das könnte den Westen in die Bredouille bringen, da
der auch unter dem Druck der Energiekrise an einem Kompromiss interessiert sein dürfte.
Und doch dürfte auch Putin wenig überzeugt sein vom bisherigen Verlauf des Krieges. „Auf die Dauer wird Putin mit diesem primär auf den massiven Einsatz von Artillerie setzenden Vorgehen nicht erfolgreich sein können“, glaubt Sicherheitsexperte Krause. So sehr es den Anschein hat: Auch dem russischen Präsidenten läuft die Zeit davon. „Es wird mehr als ein Jahr dauern,
bis er den Donbass auf diese Art und Weise wird erobern können“, glaubt Krause. Bis dahin werde ihm die Artilleriemunition und vor allem das Personal ausgehen. „Der Sieg von Sjewjerodonezk ist ein Pyrrhussieg, die Zahl der toten und verletzten Russen ist um ein Vielfaches höher als aufseiten der Ukrainer, denn auf russischer Seite kommen immer mehr schlecht ausgebildete Reservisten
zum Einsatz“, sagt der Experte. Darauf hatte kürzlich auch das britische Verteidigungsministerium hingewiesen: Russland baut immer stärker auf pensionierte Militärs, auf Söldner, auf schlecht ausgebildete Kräfte. Dies sei auf die Verluste im Krieg zurückzuführen. Als Indiz dafür nennen die Experten den Fall eines Kampfpiloten, der ein kommerzielles GPS-Gerät statt das Navigationsgerät des russischen Militärs eingesetzt hat.
Der Abnutzungskrieg zersetzt zudem die Moral – und das auf beiden Seiten. „Ukrainische Kräfte haben wahrscheinlich in den vergangenen Wochen unter Desertionen gelitten, allerdings ist höchstwahrscheinlich insbesondere die russische Moral weiterhin mit Problemen belastet“, hieß es ebenfalls im Geheimdienst-Update des Verteidigungsministeriums in London. „Es gibt weiterhin Fälle, in denen gesamte russische Einheiten Befehle verweigern, und es kommt weiterhin zu bewaffneten Konfrontationen zwischen Offizieren und Soldaten“, so die Mitteilung weiter. Hintergrund für die niedrige russische Moral seien unter anderem eine als schlecht wahrgenommene Führung, sehr schwere Verluste, Stress, und Probleme mit der Bezahlung. „Natürlich gibt es auch auf ukrainischer Seite Verluste und die Moral wird dadurch nicht besser“, sagt der Kieler Sicherheitsexperte Krause. „Aber für die meisten ukrainischen Soldaten ist klar, dass sie keine andere Wahl haben als gegen den Aggressor zu kämpfen.“