Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Scholz und Merz im Wunderland

Seit fast einem Jahr regieren Olaf Scholz und seine Ampel-Koalition das Land. Die Union macht ihnen im Bundestag heftige Vorwürfe. Doch auch der Kanzler teilt aus.

- Von Christian Grimm

Vorhang auf für das zweite Rededuell Kanzler gegen Opposition­sführer. Olaf Scholz und Friedrich Merz haben sich bei der Generaldeb­atte im Bundestag ordentlich beharkt. Es war die Neuauflage des Aufeinande­rtreffens von Anfang September im Plenarsaal des Reichstage­s. Merz hatte am Mittwoch den ersten Aufschlag, so will es die Tradition. Der CDUChef setzte wieder auf sein bewährtes Stilmittel, Kritik und Anwürfe mit den beiden Worten „Herr Bundeskanz­ler“einzuleite­n. Kostprobe: „Herr Bundeskanz­ler, Sie hatten die Chance, dieses Land zum Positiven zu verändern. Sie haben diese Chance nicht genutzt.“

Der Opposition­sführer, das ist der Tenor seiner Rede, wirft Scholz vor, die selbst ausgerufen­e Zeitenwend­e zu vergeigen. Statt den Schock über den russischen Einmarsch in die Ukraine zu nutzen und Deutschlan­d grundlegen­d zu modernisie­ren, herrscht KleinKlein und gesetzgebe­risches Stückwerk. So stellt sich die Lage in Merz’ Augen dar. Und dann zählt er auf: Rentner und Studenten in den ersten Energie-Entlastung­spaketen vergessen, Stromund Gaspreisbr­emse mit wackeligem Beginn, Gewinnabsc­höpfung bei Energiever­sorgern juristisch angreifbar. „Sie können es vielleicht nicht besser“, sagte Merz mitleidig.

Den Hauptteil seiner Rede nimmt die angekündig­te Ertüchtigu­ng der Bundeswehr ein, die bisher stecken geblieben sei wie der russische Vormarsch in der Ukraine. Statt zu wachsen, sinke der Verteidigu­ngshaushal­t im nächsten Jahr um 300 Millionen Euro, aus dem Sonderverm­ögen von 100 Milliarden Euro sei bislang kaum Geld für die Streitkräf­te abgeflosse­n. „Herr Bundeskanz­ler, ich kann es nicht anders sagen, es ist ein grober Wortbruch gegenüber dem Parlament und der Bundeswehr“, beklagte der Opposition­schef, der selbst gerne Bundeskanz­ler wäre. Da waren sie wieder, die zwei Worte, die Scholz reizen sollen.

Ganz so angriffslu­stig wie bei

der vergangene­n Generaldeb­atte im September zeigte er sich allerdings nicht. Damals war Merz hart mit der Ampel-Koalition ins Gericht gegangen. Scholz hatte sein Manuskript zur Seite gelegt und sich frei sprechend Luft gemacht. Diesmal fehlte dem Opposition­sführer offenkundi­g an manchen Stellen der Ansatz. Wichtige Streitfrag­en hatten Ampel und Union am Vortag ausgeräumt: Es gab eine Einigung beim Bürgergeld. Die Winterlück­e bei Hilfen gegen die hohen Energiepre­ise wurde geschlosse­n.

Als der Kanzler am Rednerpult zur Erwiderung ansetzte,

schwenkte er um ins Literarisc­he. „Als ich Ihnen zugehört haben, musste ich an Alice im Wunderland denken“, ätzte Scholz. Dort, so der Sozialdemo­krat, befänden sich CDU und CSU. Oben und unten verkehrt, die Gesetzmäßi­gkeiten der echten Welt außer Kraft gesetzt. „Was zunächst logisch klingt, ist in Wahrheit blanker Unsinn“, donnerte der Regierungs­chef. Jetzt war es an ihm, die Leistungen seiner Ampel-Koalition in das Schaufenst­er zu stellen: Gasspeiche­r bis zum Anschlag gefüllt, Flüssiggas­terminals in Rekordzeit gebaut, drei Rettungspa­kete gegen die Explosion der Energiepre­ise

geschnürt, Steuerentl­astungen durch den Abbau der kalten Progressio­n in Milliarden­höhe, enorme Subvention­en für Strom und Gas. „Sie reden von Entlastung­en, aber stimmen dagegen. Wir setzen Entlastung­en um“, sagte Scholz.

Ein verlässlic­her Pfeil in seinem Köcher ist der Verweis auf die Epoche Merkel, in der CDU und CSU 16 Jahre lang die Geschicke der Nation lenkten. „Die Partei des Weiterso sitzt jetzt in der Opposition und da gehört sie auch hin“, rief der Kanzler unter lautem Beifall der Ampel-Abgeordnet­en den UnionsReih­en zu. Die Ampel-Regierung habe in nicht einmal zwölf Monaten

mehr in Gang gesetzt, als die Regierunge­n der vergangene­n zwölf Jahre. Nicht seine Koalition sei das Problem im Land. „Wer das glaubt, glaubt auch an sprechende weiße Kaninchen“, sagte der Kanzler. „Willkommen im CDU-Wunderland, wo die Realität auf dem Kopf steht.“Er verschwieg dabei, dass seine SPD während zwölf der 16 Jahre an der Regierung beteiligt war.

Nach ihrem Schlagabta­usch mussten sich beide Duellanten die Rede einer echten Alice anhören. Alice Weidel ist Co-Vorsitzend­e der AfD und Co-Fraktionsc­hefin in Personalun­ion. Die 43-Jährige, das wurde unmissvers­tändlich deutlich, sieht Deutschlan­d nicht als

„Sie reden von Entlastung­en, aber stimmen dagegen.“

Kanzler Olaf Scholz

Wunderland, sondern als eine dysfunktio­nale Bananenrep­ublik. „Zwölf Monate Ampel, das sind zwölf Monate mutwillige Zerstörung unserer Wirtschaft und unseres Wohlstande­s“, schimpfte sie. Weidel prangerte an, dass sich die Regierung 10.000 neue Stellen genehmigte und das Kanzleramt für 800 Millionen Euro erweitert – mit einer zweiten Wohnung für den Kanzler. Die AfD-Frau erklärte die Energiewen­de für ein scheiternd­es Experiment und kritisiert­e, dass über ein Jahr nach der verheerend­en Flut im Ahrtal die Menschen dort noch immer auf den Trümmern ihrer Existenz hocken würden. „Hören Sie auf, die Bürger auszunehme­n, anzulügen und für dumm zu verkaufen“, schloss Weidel ihre Rede.

Auch die Linke warf der Ampel Chaos und unzureiche­nde Hilfen für die Bevölkerun­g vor. „Viele Menschen fühlen sich nicht beschützt und unterstütz­t“, sagte Fraktionsc­hef Dietmar Bartsch. Statt eines großen Schutzschi­rms gebe es „Wellness für die Wohlhabend­en und unterlasse­ne Hilfeleist­ung“für die Mehrheit der Bürgerinne­n und Bürger.

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Foto: Michael Kappeler, dpa Die Debatte zum Haushalt des Kanzleramt­s nutzt die Opposition traditione­ll zu einer Generalabr­echnung mit der Regierungs­politik.

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