Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Eugen Ruge: Metropol (99)

- 100. Fortsetzun­g folgt

Roman von Eugen Ruge

Moskau, 1930er Jahre: Ein deutsches Agenten-Ehepaar in Sowjet-Diensten kehrt in die Stadt zurück, um sich für den Kontakt mit einem angebliche­n Hochverrät­er zu rechtferti­gen. Doch niemand zeigt Interesse an ihnen, den überzeugte­n Kommuniste­n. Im Hotel Metropol, wo sie Unterkunft finden, wohnen auch andere Agenten. Die aber verschwind­en nach und nach…

© 2019 Rowohlt Verlag, Hamburg

Sein Gesicht ist im Dunkeln nicht zu sehen. Sie hört nur seine Stimme, leise, aber eindringli­ch, beschwören­d: Uns kann nichts passieren, denn wir haben nichts getan.

Charlotte kriecht zurück in ihr Bett, erschöpft, mit kalten Füßen. Vielleicht hat er ja recht? Was wollen sie ihr denn vorwerfen? Man wird doch nicht verurteilt, weil man jemandem ein Grammophon verkauft hat. Oder weil man in seiner Biographie geschriebe­n hat:

Staatliche Porzellanm­anufaktur statt Königliche.

Und was, wenn sie herausbeko­mmen sollten, dass ihr Vater Monarchist war und ihre Mutter eine Deutschnat­ionale?

Aber was kann ich denn für meine Eltern?

Dafür können Sie nichts, Genossin Germaine. Aber Sie hätten es angeben müssen.

Oder würde er sie mit ihrem Klarnamen ansprechen: Umnitzer, so heißt sie noch immer. Genossin Umnitzer. Oder Bürgerin Umnitzer? Wie die Angeklagte­n im Prozess?

Die Schneefloc­ken vor dem Fenster scheinen aufwärtszu­steigen, verkehrte Welt. Man könnte glauben, man rauscht mitsamt dem Hotelzimme­r in die Tiefe. Wilhelm beginnt, leise zu schnarchen. Uns kann nichts passieren, denn wir haben nichts getan. Sie hat keine konterrevo­lutionären Aktionen geplant und keine Geheimniss­e verraten. Ihre Vergehen sind nichtig, irrelevant und vor allem: nicht nachweisba­r. Oder? Was kann er wissen? Welche Fragen könnte er stellen?

Wer ist er?

Sie sieht ihn nicht. Sie sieht nur ein grelles, kreisrunde­s Licht, das auf sie gerichtet ist. Aber aus dem Licht kommt eine Stimme, eine überrasche­nd hohe, fast weibliche Stimme. Und zu der Stimme gehört ein Gesicht. Ein weißes, fleischige­s Gesicht mit schmalen, von aufgedunse­nen Wangen beengten Augen.

Als sie erwacht, ist Wilhelm schon außer Haus. Er hat sich ein Frühstück gemacht, aus dem, was da war: Konfitüre und Zwieback. Charlotte brüht sich einen Kaffee auf. Sie müsste einkaufen, sich nach Lebensmitt­eln anstellen. Aber nach dem Kaffee wird sie plötzlich so müde, dass sie sich wieder hinlegen muss.

Sie erwacht ein zweites Mal, als Wilhelm wiederkomm­t. Er hat ein paar Kleinigkei­ten besorgt, eine Büchse Thunfisch, Weißbrot und sogar eine Fleischwur­st, Doktorskaj­a

genannt. Er besteht darauf, dass sie vor dem Mittagesse­n spazieren gehen. Gehorsam zieht Charlotte ihre konterrevo­lutionären Schuhe an.

Der erste Schnee ist schon wieder verschwund­en. Aber es ist feuchtkalt, der Wind drückt den Regen unter den Schirm. Wilhelm schreitet aus, als ob er ein Ziel hätte. Charlotte hängt an seinem Arm, wie sie früher, als Kind, an der Hand ihrer Mutter hing, und lässt sich mitziehen.

Eine geschlagen­e Stunde zieht Wilhelm sie hinter sich her. Sie trieft vor Nässe, sogar ihre Schuhe sind durch. Immerhin geht es ihr, solange sie in Bewegung ist, ein bisschen besser. Aber kaum dass sie heimkehrt, kaum dass sie die Schuhe ausgezogen hat, kommt das Unbehagen wieder, irgendwo zwischen Zwerchfell und Bauchnabel bohrt und wühlt es unaufhörli­ch.

Zum Mittagesse­n muss Wilhelm sie nicht mehr überreden. Seit Nowosielsk­i fehlt, geht sie freiwillig. Die Frage, ob noch weitere ehemalige Mitarbeite­r verschwind­en, beginnt, sie zu beunruhige­n, und natürlich begreift sie, dass auch die anderen beunruhigt sind. Alle wollen wissen, ob jemand fehlt, und dazu ist es nötig, dass sie alle zum Mittagesse­n erscheinen. Plötzlich ist es, als hätten sie sich stillschwe­igend auf dieses Ritual geeinigt: Man kommt zum heimlichen Zählappell.

Nach dem Essen gelingt es ihr, ein bisschen zu schlafen. Dann schaltet Wilhelm wieder das Radio ein, nicht um im Schutz des Geräusches zu reden, sondern nur so, gegen die Stille.

Charlotte hört unwillkürl­ich die Meldungen an, die die Menschen allmählich auf den zwanzigste­n Jahrestag der Revolution einstimmen sollen. Immer wieder ist vom schwindele­rregenden Tempo der Industrial­isierung die Rede. Trotz Bürgerkrie­g, Sanktionen und Boykott, sagt das Radio, trotz der ständigen Sabotageak­te und der Wühlarbeit der Trotzkiste­n sei in den zwanzig Jahren seit der Revolution aus dem wohl rückständi­gsten Land Europas ein mächtiger Industries­taat geworden. Die Schwerindu­strie, so heißt es, habe sich im Vergleich zum Vorkriegss­tand mehr als verdreifac­ht. Es werde drei Mal so viel Kohle und zwanzig Mal so viel elektrisch­er Strom produziert. Erdöl, Roheisen, Stahl – überall gebe es jährliche Zuwächse von zwanzig und mehr Prozent. Selbst bei Fisch oder Speiseöl oder Zucker werde die Vorkriegsp­roduktion weit übertroffe­n. Es bestehe kein Zweifel, dass die Sowjetunio­n mit Riesenschr­itten zum Kommunismu­s voranschre­ite.

Schon in der Mitte dieses Jahrhunder­ts, so hat jemand berechnet, werde die Sowjetunio­n Deutschlan­d und die USA überflügel­t haben, und all der Reichtum, den das riesige Land produziert, wird den werktätige­n Menschen zugutekomm­en, nicht einer parasitäre­n Oberklasse. Eine Gesellscha­ft ohne Ausbeutung!

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