Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Ein Tabu namens Demenz
Die Zahl der Erkrankten steigt in Bayern. Vor allem Frauen sind betroffen. Doch Angst, Scham und Unwissenheit seien weit verbreitet, klagen Experten. Die Pflegebeauftragte des Bezirks Schwaben will gegensteuern.
Wer von Demenz betroffen ist, werde oft von einer Minute auf die andere bevormundet, sagt Peter Wißmann. Das geschehe nicht aus böser Absicht, betont er, im Gegenteil. Dennoch verletze es Betroffene in der Regel tief und führe nicht selten sogar zu Wut und Verzweiflung. Hat jemand diese Diagnose, werde er oft beispielsweise gar nicht mehr gefragt: Was schlägst Du vor? Was machst Du gerne? Was ist Dir wichtig? Weil mit der Diagnose viel zu oft nur noch der Blick auf die Beeinträchtigungen gelenkt werde. Das müsse sich ändern, fordert der DemenzExperte vom Team WAL, Wachstum ab der Lebensmitte, das seinen Sitz in Innsbruck hat und der eben erst bei einer Fachtagung in Augsburg war. Die Perspektive der Betroffenen sei entscheidend, werde aber zu wenig berücksichtigt.
Das Problem sieht Wißmann aber auch darin, dass zu viele ihre Erkrankung so lange es irgendwie geht, verbergen. „Viele kommen erst, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist und Angehörige die Pflege nicht mehr schaffen.“Dann sei es aber viel zu spät. Der Sozialpädagoge plädiert daher vor allem auch für einen massiven Ausbau von Angeboten für Frühbetroffene. Denn er weiß aus unzähligen Begegnungen, was alles möglich ist, wie positiv ein Leben auch mit kognitiven Einschränkung gelingt, wenn so früh wie möglich die richtigen Weichen gestellt und ein Netz an Assistenz geknüpft wird. „Demenz heißt nicht immer gleich Pflege“, betont er.
Eingeladen wurde Wißmann von Christine Rietzler, der Pflegebeauftragten des Bezirks Schwaben. „Lebensfreude trotz(t) Demenz“war der Fachtag überschrieben. Schließlich weiß auch Rietzler, „dass Demenz noch immer ein Tabuthema ist, eine Erkrankung, die mit großen Ängsten, aber auch Scham verbunden ist“. Dabei sind so viele betroffen: Im Freistaat leben derzeit nach Angaben des bayerischen Gesundheitsministeriums rund 270.000 Menschen mit Demenz. Etwa 70 Prozent davon sind Frauen. In Schwaben sind es schätzungsweise 37.000. Tendenz
steigend. Gerade weil immer mehr Menschen erkranken, „brauchen wir die breite Gesellschaft, die sich mit der Krankheit auskennt“, sagt Rietzler, eine gelernte Krankenschwester. Ihr Ziel ist es, dass an Demenz Erkrankte so lange wie möglich in ihrer vertrauten Umgebung wohnen bleiben können, denn gerade ihr gewohntes Umfeld sei für die Betroffenen so wichtig. Doch dafür müsse sich einiges ändern. Neben der Enttabuisierung der Erkrankung und der verstärkten Aufklärung wirbt Rietzler auch für Inklusion, das heißt, an Demenz Erkrankte müssen aus ihrer Sicht viel stärker an unserem gesellschaftlichen Alltag teilnehmen und nicht ausgeschlossen werden. Konkret setzt sie beispielsweise verstärkt auf Nachbarschaftshilfe und ehrenamtliche Demenzpaten sowie Alltagsbegleitungen.
Birgit Baur ist seit 15 Jahren ehrenamtliche Demenzpatin, das heißt, sie sorgt für mehr Aufklärung über die Erkrankung. Die medizinische Mitarbeiterin einer Arztpraxis hat auch schon mehrere an Demenz erkrankte Familienangehörige begleitet und sie weiß, wie wichtig es ist, „dass man auf
die Betroffenen zugeht, mit ihnen liebevoll und empathisch umgeht“. Schließlich kann es jeden treffen, niemand hat es in der Hand. Doch Baur spürt, dass aktuell durch die vielen Krisen die Gesellschaft einfach weder Zeit noch Nerven hat: „Solche persönlichen Schicksale geraten gerade jetzt leider sehr ins Hintertreffen.“Doch auch Baur ist wie Rietzler überzeugt davon, dass ein würdevoller Umgang mit den Betroffenen nur möglich ist, wenn die Unterstützung auf vielen Schultern verteilt wird.
Prof. Dr. Matthias Riepe beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Demenzerkrankungen. Er steht seit mehr als zehn Jahren an der Spitze der Abteilung Gerontopsychiatrie und Akutgeriatrie am Bezirkskrankenhaus Günzburg und hat interimsmäßig auch die
Leitung der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie übernommen. Auch er rät Menschen, die kognitive Einschränkungen an sich bemerken, so früh wie möglich einen Arzt aufzusuchen. „Denn es ist nachgewiesen, dass durch eine sehr frühe Therapie die kognitiven Fähigkeiten länger erhalten werden können.“Auch gebe es bereits gute Medikamente, bei deren Einsatz sich beispielsweise gezeigt habe, dass die Zeit bis zur Einweisung in ein Pflegeheim um bis zu zwei Jahre verlängert werden konnte. Das sei nicht nur aus Kostengründen ein Argument für die frühe Medikation, „das bedeutet im Alltag wirklich ein Mehr an Lebensqualität für die Betroffenen“.
Erster Ansprechpartner ist der Hausarzt beziehungsweise die Hausärztin. Allerdings sieht Riepe hier Probleme: „Viele Hausärzte beschäftigen sich leider ungern mit dem Thema Demenz, da es komplex ist und es allein schon sehr aufwendig ist, überhaupt nachzuweisen, dass eine Erkrankung vorliegt.“Auch beim Einsatz der Medikamente sind nach Einschätzung von Riepe viele Hausärzte
zu zögerlich. „Auch Hausärzte sind leider noch zu oft der Meinung, dass der Mensch mit dem Alter eben zwangsläufig vergesslich wird.“
Und warum sind so viel mehr Frauen betroffen? Zuletzt hieß es, dass das follikelstimulierende Hormon (FSH) dafür verantwortlich sein könnte. Tierversuche hätten dies gezeigt. Riepe ist da skeptisch und erklärt: Bei der vaskulären Demenz, die infolge von Durchblutungsstörungen etwa im Gehirn entsteht, sind Männer stärker betroffen, bei der Alzheimer-Demenz Frauen. Ein wesentlicher Grund, warum mehr Frauen an Alzheimer-Demenz erkranken ist für ihn die Tatsache, dass Frauen oft älter werden. Auffallend sei aber auch ein unterschiedliches Testverhalten: „Frauen haben in der Regel ein höheres sprachliches Kompetenzrepertoire und viele Demenztests basieren auf den sprachlichen Fähigkeiten. Das heißt, Frauen schneiden bei den Tests oft besser ab als Männer.“Das bedeute aber auch: Bei Frauen bleibt eine Demenz oft länger unentdeckt und damit leider auch unbehandelt.
Es gibt auch gute Nachrichten: So beobachtet Dr. Jan Häckert, Leiter des Gedächtnis- und Therapiezentrums der psychiatrischen Uniklinik Augsburg, dass die Gedächtnissprechstunden nicht nur sehr gut angenommen werden. „Was mich sehr erfreut ist, dass sich vor allem Menschen mit frühen Symptomen bei uns melden.“Das sei die Zielgruppe, die von einem möglicherweise zukünftigen Medikament profitieren könnte. Ein neues Präparat befinde sich nämlich in der Zulassungsprüfung: Lecanemab. Es wäre das erste Präparat, das zur ursächlichen Behandlung der Alzheimer-Erkrankung zugelassen wäre.
Lesen Sie dazu einen auf der ersten Bayern-Seite.
„Viele Hausärzte beschäftigen sich leider ungern mit dem Thema Demenz“
Prof. Dr. Matthias Riepe
Hilfe: Die Fachstelle für Demenz und Pflege Schwaben bietet eine kostenlose Information an, Mail: info@demenz-pflege-schwaben.de; Telefon 0831 / 697143-18; Gedächtnissprechstunden bieten die Bezirkskliniken Augsburg, Günzburg, Memmingen und Kempten an. Wer Demenzpate werden will findet Infos unter www.demenzpaten-augsburg.de