Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Eine alles verzehrend­e Liebe

„Bones and All“ist vieles in einem: Horrorfilm über junge Kannibalen, Roadmovie und Coming of Age-Geschichte. Trotz verstörend­er Szenen ist der Film aber auch ein bewegendes Liebesdram­a.

- Von Martin Schwickert

Abends steigt Maren (Taylor Russell) durch das Fenster und schleicht sich heimlich davon. Ihr Vater (André Holland) führt ein strenges Regime, verschließ­t nachts die Zimmertür und wacht über ihren Schlaf. Aber jetzt hat sie es zur Pyjama-Party ihrer neuen Schulfreun­din geschafft. Die beiden liegen kichernd rücklings auf dem Teppich unter dem gläsernen Wohnzimmer­tisch und lackieren sich die Nägel. Die Freundin hält ihr die Hand hin, damit sie die Farbe des Lacks bewundern kann. Marens Lippen berühren den Finger. Was als verspielte­r erotischer Moment beginnt, endet im Schock, als sie mit aller Kraft zubeißt und den Finger verspeist. Als sie mit blutigen Lippen in der Tür steht, weiß der Vater sofort Bescheid. Drei Minuten bleiben, um ein paar Sachen zu packen, und dann rasen sie wieder mit dem Auto davon.

Gleich zu Beginn setzt der italienisc­he Regisseur Luca Guadagnino („Call Me By Your Name“) in seiner ersten US-Produktion einen kurzen, klaren Schockakko­rd. Aber auch wenn der Verzehr von Menschenfl­eisch ein zentrales Thema ist, lässt sich dieser Film nicht so einfach ins Horror-Film-Regal einsortier­en. „Bones and all“ist vieles in einem: ein amerikanis­ches Roadmovie, ein Coming-of-AgeFilm, dessen Heldin aus einer extremen Außenseite­rinnen-Position ihren Platz im Leben finden muss, und vor allem: ein bewegendes, melancholi­sches Liebesdram­a. Der Film hat weit mehr mit Klassikern á la „Bonnie and Clyde“(1967) zu tun als mit einschlägi­gen Splatterwe­rken.

Nach dem blutigen Vorfall gibt der Vater seine Beschützer­rolle auf. Er hinterläss­t Maren ein Bündel Dollarsche­ine, eine besprochen­e Audio-Kassette und die Geburtsurk­unde mit dem Namen der Mutter. Und so fährt das Mädchen los auf der Suche nach Erklärunge­n und der Mutter, die es nie kennen gelernt hat. An einer nächtliche­n Bushaltest­elle trifft sie auf Sully (Mark Rylance). Von ihm erfährt Maren, dass sie nicht die einzige Kannibalin ist, die unerkannt in der menschlich­en Normalität lebt, welche Regeln unter den sogenannte­n „Eatern“herrschen und wie man an eine adäquate Mahlzeit kommt, ohne zu töten.

Als wenig später in einer anderen Stadt Lee (Timothée Chalamet) im Supermarkt neben ihr steht, riechen beide sofort, dass sie die gleichen Ernährungs­bedürfniss­e haben. Das Filmklisch­ee der Liebe auf den ersten Blick erfährt hier in seiner kannibalis­tischen Variante eine ganz neue Wertigkeit. Und so brausen sie davon in die weiten Landschaft­en und lernen sich auf eine offene Weise kennen, wie es für sie mit anderen bisher nicht möglich war. Liebe ist hier die vollkommen­e, gegenseiti­ge Akzeptanz, die bei der eigenen Person beginnt und den anderen in die Arme schließt. Lee ist tief gezeichnet vom Außenseite­rdasein und hat ein grausames Familienge­heimnis, das seine Rastlosigk­eit bestimmt. Maren hingegen versucht die Leerstelle in ihrem Leben zu füllen, aber der Besuch bei der Mutter in einer geschlosse­nen Anstalt ist alles andere als die erhoffte Versöhnung mit den familiären Wurzeln und der kannibalis­tischen Dispositio­n.

Der Umgang mit dieser Dispositio­n, deren Ausübung der Film in wenigen, markanten Szenen aus einer eher distanzier­ten Kameraposi­tion zeigt, ist für das Liebespaar gleicherma­ßen von Schuldgefü­hlen und Erfüllung gekennzeic­hnet. Anders etwa als in „Twilight“, wo der Vampirismu­s zum Erotikum und wertkonser­vativen Triebstaud­rama ausgebaut wird, geht es hier um die Selbstakze­ptanz und den pragmatisc­hen Umgang mit der verstörend­en Abweichung. Aber bei aller Metaphorik kann Guadagnino den Verdacht nie ganz abschüttel­n, dass es sich bei dem vermeintli­ch radikalen Tabubruch der Menschenfr­esserei vor allem um ein PR-Manöver handelt.

Und so lebt „Bones and all“vor allem vom Verve eines Liebes-Road-Movies und der mitreißend­en Präsenz des Schauspiel­duos in den Hauptrolle­n. Timothée Chalamet, der durch Guadagnino­s „Call Me By Your Name“zum androgynen Schwarm seiner Generation wurde, spielt auch hier wieder mit seinem fragilen Charisma.

Aber es ist die junge Taylor Russell („Waves“), die scheinbar traumsiche­r, ganz ohne Overacting und Erklärdial­oge eine große empathisch­e Nähe zu ihrer Figur herstellt und beim diesjährig­en Filmfestiv­al in Venedig zu Recht als beste Nachwuchsd­arstelleri­n ausgezeich­net wurde.

 ?? Foto: Yannis Drakoulidi­s, dpa ?? Liebe auf den ersten Blick unter Kannibalen: Taylor Russell und Timothée Chalamet unternehme­n in „Bones and All“einen Roadtrip durch den mittleren Westen der USA.
Foto: Yannis Drakoulidi­s, dpa Liebe auf den ersten Blick unter Kannibalen: Taylor Russell und Timothée Chalamet unternehme­n in „Bones and All“einen Roadtrip durch den mittleren Westen der USA.

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