Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Ein moralische­r Kompass für die WM

- Von Tilmann Mehl

War ja auch noch nie so schwer, die Orientieru­ng zu behalten. Was gerade noch verpönt war, ist plötzlich Symbol der freiheitli­chen demokratis­chen Grundordnu­ng. Ein Zeichen des zivilen Widerstand­s. Die Welt dreht sich immer schneller, die Fliehkräft­e können einen schnell an den Rand der Gesellscha­ft treiben. Aufgabe des Journalism­us muss es dann auch sein, Pflöcke reinzuramm­en, an denen sich festhalten lässt. Oder eben einen Kompass zur Verfügung zu stellen, mit dem sich durch die Debatten lavieren lässt.

Die One-Love-Binde nun zum Beispiel: War hierzuland­e ja verpönt, weil sie so arg nichtssage­nd daherkam in ihrem wahllos farbigen Design und mit dem Sprüchlein, das auch Motto eines 90er Jahre Techno-Umzugs hätte sein können. Die Deutschen haben ja seit den frühen 20er Jahren des vergangene­n Jahrhunder­ts ein durchaus ambivalent­es Verhalten zu Binden. Erst wollten sie alle tragen und später wollte sie dann niemand getragen haben. Zeiten ändern sich. Aber klar, Orientieru­ng und so: „One Love“ist jetzt gut. Viel besser als „No Discrimina­tion“. Weil das nämlich die Fifa auf ihre Binde druckt. Und die Fifa ist böse. Durch und durch. Ist ganz einfach.

Schwierige­r wird es schon bei der Frage, ob man dem inneren Impuls folgen darf, sich über Außenseite­r-Erfolge zu freuen. Also beispielsw­eise über den Erfolg der Saudis gegen Argentinie­n. Weil: Im Vergleich zu Saudi-Arabien ist Katar eine Regenbogen-Nation. Sich also mit einem Team freuen, dessen politische Führung einen Journalist­en hat zersägen lassen? Nein! Schnell wieder runter mit den Jubel-Armen.

Um was für das Gewissen zu tun und eben nicht nur maulheldig Sportlern in 5000 Kilometern zu sagen, was sie zu tun haben, rein zu Rewe. Der Edel-Konzern, dessen Vertrag mit dem DFB sowieso ausgelaufe­n wäre, der nun aber schon die Zusammenar­beit während der WM beendet. Tue Gutes und rede darüber. Dann mal bei den Menschenfr­eunden ein Kilo Hähnchensc­henkel für 5,13 Euro kaufen. Waren garantiert glückliche Viecher, die von glückliche­n Menschen gekeult wurden. Tönnies und so.

Und wer dann auf dem Nachhausew­eg vom Supermarkt noch ein Obdachlose­n-Magazin kauft, sollte sein Moral-Konto wieder so weit aufgeladen haben, dass ruhigen Gewissens die Abreise der deutschen Mannschaft aus diesem Schurkenst­aat gefordert werden kann.

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