Augsburger Allgemeine (Land Nord)
„Viele Kinder sind aus dem Tritt geraten“
Depressionen, Trennungs- oder Schulangst: Viele junge Menschen fühlen sich nach der Corona-Krise psychisch belastet. Die Leiterin der Schulpsychologen in Schwaben kennt ihre Sorgen. Sie sagt aber auch: Viele schaffen das.
Frau O’Connor, die Corona-Zeit war für Kinder und Jugendliche ganz besonders seelisch anstrengend, das hört man immer wieder. Aber was bedeutet das genau?
Isabell O’Connor: Ich glaube, dass man hier differenzieren muss. Wenn man den Zahlen der Copsy-Studie („Corona und Psyche“) des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE 2020) folgt, können wir davon ausgehen, dass sich etwa zwei Drittel der Kinder und Jugendlichen psychisch belastet fühlen. Diese Gruppe lässt sich aus meiner Sicht noch einmal unterteilen. Einem Teil der Schülerinnen und Schüler geht es tatsächlich durch die Belastungen in der Pandemie schlechter als vorher. Hier gibt es Jugendliche, die schon vor Corona mit Problemen gekämpft haben; die Pandemie kann in diesen Fällen wie eine Lupe oder ein Brennglas wirken: Probleme werden noch deutlicher sichtbar und verstärken sich.
Und die andere Hälfte?
Isabell O’Connor: Und wir haben Schüler, die durch fehlende Tagesstruktur während des Lockdowns, fehlende soziale Kontakte, Selbstorganisation im Lernen und Ähnliches den Tritt verloren haben und nun keine Motivation mehr finden oder sich schwertun, sich in das soziale Gefüge neu einzuordnen.
Aber das trifft am Ende nicht auf alle Kinder und Jugendlichen zu, das meinten Sie doch damit, als Sie sagten, es gebe keine pauschale Aussage.
Isabell O’Connor: Genau. Es gibt tatsächlich auch ein Drittel unter den Schülerinnen und Schülern, das sich weiterhin gar nicht belastet fühlt.
Wie gut ist denn Ihr Überblick über die Lage?
Isabell O’Connor: Die Staatliche Schulberatung für Schwaben ist für rund 500 Beratungsfachkräfte, also Schulpsychologinnen und Beratungslehrkräfte, zuständig. Tatsächlich ist es so, dass es inzwischen für jede staatliche Schule in Schwaben einen zuständigen Schulpsychologen gibt. Das bedeutet allerdings nicht, dass auch tatsächlich an jeder Schule jemand vor Ort ist. Bei den Gymnasien haben wir das fast geschafft; bei anderen Schularten kann eine Schulpsychologin auch für drei oder mehr Schulen zuständig sein.
Weil diese einfach weniger Probleme haben als Gymnasiasten?
Isabell O’Connor: Sicher nicht. Unserer Erfahrungen nach sind die Fälle, die die Schulpsychologen zu bearbeiten haben, über alle Schularten, in jeder Altersgruppe und ohne Stadt-Land-Gefälle ähnlich verteilt. Das Ungleichgewicht kommt anders zustande. Das Studium der Psychologie mit schulpsychologischem Schwerpunkt – so heißt es genau – wird im Rahmen eines Lehramtsstudiums studiert. Es scheint, als sei das Interesse für die Schularten einfach unterschiedlich verteilt bei den Studenten und Studentinnen. Wir freuen uns über alle, die das Fach studieren.
Wie helfen Schulpsychologen den nun?
Isabell O’Connor: Nach der Kontaktaufnahme findet zunächst ein Erstgespräch mit dem oder den Ratsuchenden statt. Dabei wird die
Fragestellung geklärt, wer wie von dem Problem betroffen ist und wie eine mögliche Lösung oder Hilfestellung aussehen könnte, sodass das Vorgehen für die weitere Beratung festgelegt werden kann. Dann werden alle Fakten und Sichtweisen der Beteiligten zusammengetragen; ebenso werden vorhandene Ressourcen bedacht. Ziel ist es, neue Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen. Je nach Zielsetzung kann dann auch eine Zusammenarbeit mit Lehrkräften, Sozialpädagogen, sonderpädagogischen Diensten,
Therapeutinnen oder Therapeuten erfolgen – wenn der oder die Ratsuchende das möchte und er oder sie den Schulpsychologen von seiner Schweigepflicht entbindet.
Von welchen Problemen der Kinder und Jugendlichen berichten Ihre Kollegen und Kolleginnen denn nun aktuell?
Isabell O’Connor: Was sich verändert hat, das ist die Zahl der Anfragen. Von Kolleginnen und Kollegen höre ich, dass etwa früher zehn Schüler pro Schuljahr wegen
einer erhöhten Prüfungsängstlichkeit den Weg zum Schulpsychologen gesucht haben; heute sind es 20 und mehr Schülerinnen. Diese erhöhte Beratungsnachfrage gilt für viele Themenbereiche. Bei Grundschülern suchen Eltern verstärkt Rat, etwa im Hinblick auf Trennungsängste. Das kommt vor allem bei den Erst- und Zweitklässlern vor, während wir bei älteren Schülern eine Zunahme von Anfragen in Bezug auf Ängste, Depressionen und infolgedessen Schwierigkeiten mit oder Unmöglichkeit von Schulbesuch feststellen.
Was machen Sie denn in solchen Fällen? Sie haben gesagt, Sie dürfen nicht therapieren.
Isabell O’Connor: Ja, und das möchte ich auch gerne noch einmal betonen: Schulpsychologen und Schulpsychologinnen dürfen keine psychiatrischen Diagnosen stellen und nicht therapieren. Während Kinder und Jugendliche also auf eine ambulante oder stationäre Behandlung warten, kann es unser Bemühen sein, ein offenes Ohr zu haben und – wo es zeitlich und personell möglich ist – im Rahmen unserer Möglichkeiten zu unterstützen. Ersetzen kann eine schulpsychologische Beratung eine stationäre oder ambulante Behandlung aber nicht.
Die Schulschließungen liegen inzwischen etwa eineinhalb Jahre zurück. Wie wird es für die Schülerinnen und Schüler weitergehen?
Isabell O’Connor: Ich bin grundsätzlich optimistisch und gehe davon aus, dass sich vieles auch wieder regulieren wird. Die meisten Kinder und Jugendlichen fassen wieder Tritt und finden zurück, davon bin ich überzeugt.