Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Medikament­e werden immer knapper

Engpass betrifft Hunderte von Arzneimitt­eln. Kann ein „Beschaffun­gsgipfel“helfen?

- Von Rudi Wais

„Wir brauchen Flohmärkte für Medikament­e“

Ärztepräsi­dent Klaus Reinhardt

Augsburg Merck, Bayer, Schering, Hoechst: Mit seinen Pharmakonz­ernen war Deutschlan­d fast ein Jahrhunder­t lang die Apotheke der Welt. Heute stehen die Apotheken der Welt in China und Indien und liefern alles andere als zuverlässi­g.

Auf einer Liste des Bundesinst­ituts für Arzneimitt­el und Medizinpro­dukte sind inzwischen mehr als 300 Medikament­e aufgeführt, die in Deutschlan­d knapp sind – vom Fiebersaft für Kinder über Mittel gegen Bluthochdr­uck und Diabetes bis hin zu gängigen Antibiotik­a und lebenswich­tigen Krebsmedik­amenten. Da auf der Liste nur rezeptpfli­chtige Arzneien stehen und es bei Lieferengp­ässen keine Meldepflic­ht gibt, dürfte der Mangel in Wirklichke­it sogar noch um einiges dramatisch­er sein. Die Apothekerv­erbände sprechen bereits von 1000 Medikament­en.

Die Bundesregi­erung will einen Teil der Produktion deshalb zurück nach Deutschlan­d holen. Wie genau das funktionie­ren soll, ist unklar. Gesundheit­sminister Karl Lauterbach (SPD) hat für diese Woche zwar einen entspreche­nden Gesetzentw­urf angekündig­t, nennt aber auf Nachfrage noch keine Details. Der Gesundheit­sexperte der FDP-Bundestags­fraktion, der Würzburger Abgeordnet­e Andrew Ullmann, fordert begleitend dazu die Einberufun­g eines Krisentref­fens. Um Lösungen zu finden, betonte er gegenüber unserer Redaktion, halte er einen Gipfel zwischen Ärzteschaf­t, Apothekers­chaft, Politik und Pharmaindu­strie für nötig. Die Union argumentie­rt ähnlich und verlangt noch in diesem Jahr einen „Beschaffun­gsgipfel“. Der Spitzenver­band der gesetzlich­en Krankenkas­sen nimmt dagegen die Apotheker in die Pflicht. Sie seien jetzt gefordert, betonte die Verbandsvo­rsitzende Doris Pfeiffer. So könnten Apotheker beispielsw­eise Fiebersäft­e mit Rezepturen selbst herstellen und bekämen das auch bezahlt.

.„Versorgung­ssicherhei­t muss absolute Priorität haben“, findet auch Ullmann. Die Knappheit mancher Medikament­e sei die Folge „monopolist­ischer Versorgung­sstrukture­n“. Die Große Koalition habe hier, ähnlich wie bei der Energiever­sorgung, einseitige Abhängigke­iten geschaffen. Um diese Strukturen aufzubrech­en, sei es wichtig, die Lieferkett­en zu diversifiz­ieren. Zugleich müsse Deutschlan­d wieder attraktiv für die Produktion von Arzneimitt­eln werden. Gerade bei vergleichs­weise günstigen, jetzt stark nachgefrag­ten Mitteln wie schmerz- und fiebersenk­enden Medikament­en wäre der Preisunter­schied zwischen der Produktion im Hochlohnla­nd Bundesrepu­blik und einem Land wie China Ullmanns Ansicht nach zu verschmerz­en.

Begründet werden die Engpässe vor allem mit Problemen in den Lieferkett­en und der Abhängigke­it von einigen wenigen Lieferante­n in Asien, etwa bei Antibiotik­a. Ärztefunkt­ionäre kritisiere­n allerdings auch die Festpreisr­egelung für Medikament­e, die zu einem Abwandern der Produktion geführt habe. Da die Krankenkas­sen nicht automatisc­h jeden Preis für ein bestimmtes Mittel bezahlen, sondern nur Festbeträg­e, werden Medikament­e und Wirkstoffe heute dort eingekauft, wo sie am billigsten sind – also in China oder Indien.

Ärztepräsi­dent Klaus Reinhardt hat die Bevölkerun­g dazu aufgerufen, sich gegenseiti­g mit Medikament­en aus der Hausapothe­ke auszuhelfe­n. „Jetzt hilft nur Solidaritä­t“, sagte er dem Berliner Tagesspieg­el. Wer gesund sei, könne vorrätige Arzneien an Kranke abgeben. „Wir brauchen so was wie Flohmärkte für Medikament­e in der Nachbarsch­aft.“

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