Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Auf dem Rücken der Hilfsbedür­ftigsten

In Österreich werden Geflüchtet­e immer stärker zum Spielball der Politik. Das zeigt sich auch in Traiskirch­en. Dort befindet sich das größte Erstaufnah­mezentrum des Landes. Und ein Bürgermeis­ter, der schwere Vorwürfe erhebt.

- Von Werner Reisinger

Man wolle die Situation eskalieren lassen, sagt der SPÖ-Politiker

Traiskirch­en Ein windiger, bitterkalt­er Samstagmit­tag in Traiskirch­en, im Süden von Wien – nicht gerade die Witterung, die zu einem Picknick einlädt. Auf den Gehsteigen rund um Österreich­s größtes AsylErstau­fnahmezent­rum, untergebra­cht in einer ehemaligen Kaserne, setzen sich Menschen in Bewegung, in kleineren und größeren Gruppen. Ihr Ziel ist eine nahe Wiese. Schon auf dem Weg riecht es nach Suppe und nach dem Rauch des Lagerfeuer­s, das Geflüchtet­e entzündet haben. Am Feuer haben sich Jugendlich­e versammelt, junge Männer, Kinder und ihre Eltern. Die meisten von ihnen kommen aus dem Irak, aus Afghanista­n und Syrien. Bis zu 15 Monate dauerte ihre Flucht, häufig über die sogenannte Balkan-Route, über Ungarn in den Osten Österreich­s.

Wer hier am Lagerfeuer steht oder sich für eine Suppe anstellt, hatte Glück. Auch das, vor „Pushbacks“an der EU-Außengrenz­e, etwa in Kroatien, verschont geblieben zu sein. Das Wort „Pushback“meint das oft brutale und illegale Zurückdrän­gen von Migranten. Endlich angekommen in Traiskirch­en, stehen diese dennoch vor dem Nichts: Viele von ihnen tragen lediglich Badeschlap­pen oder Hausschuhe. Ohne Socken. Winterjack­en haben die wenigsten. An einem Stand wird daher Kleidung ausgegeben, „mit System“, wie eine der freiwillig­en Helferinne­n erklärt. Heißt: Wer einen entspreche­nden Abholschei­n vorzeigt, bekommt, was er oder sie dringend braucht. Mäntel, Schuhe, einen Kinderwage­n. An einem weiteren Stand wird Gemüsebrüh­e in Pappschüss­eln ausgeschen­kt, es gibt Schwarztee und für die Kleinen Schokolade und andere Süßigkeite­n. Im Sommer, sagt eine Helferin und deutet auf einen leeren Holzversch­lag, sei hier auch ein „Freiluft-Friseur“. Rund um die Wiese ziehen Ehrenamtli­che und Geflüchtet­e in den warmen Monaten Gemüse: „Garten der Begegnung“nennt sich das Projekt, 2015 initiiert vom ehemaligen Filmarchit­ekten Nikolai Ritter.

Jeden Samstag, erklären die Freiwillig­en weiter, wird Geflüchtet­en an diesem Ort geholfen, die Aktion sei inzwischen ein Fixpunkt für alle, die im oder vor dem Erstaufnah­mezentrum stranden.

Mitten drin an diesem Tag: Andreas Babler. Der sozialdemo­kratische Bürgermeis­ter von Traiskirch­en ist seit den Flüchtling­sbewegunge­n von 2015 so etwas wie eine Symbolfigu­r der österreich­ischen Zivilgesel­lschaft: Ein Bürgermeis­ter, der anpackt, anstatt Probleme möglichst von seiner Gemeinde wegzuschie­ben. Einer, der konkret hilft und Mitmenschl­ichkeit in den Vordergrun­d stellt, dabei aber die Probleme in seiner Gemeinde nicht vergisst. Und die, sagt Babler, gebe es immer wieder: „Es sind natürlich junge Männer, die tagsüber ihre Quartiere verlassen.“Manche von ihnen würden an der Bahnstatio­n herumlunge­rn, es komme vor, dass Frauen mit „Heiratsang­eboten“belästigt würden. „Das lösen wir über Sozialarbe­iter“, sagt Babler. Für ernsthafte­n Unmut würden solche Vorfälle nicht sorgen.

Situatione­n zu meistern, mit denen andere längst überforder­t wären, aktiv zu sein, wo Behörden und Politik Bürgerinne­n und Bürger im Stich ließen – das seien die Traiskirch­ner gewöhnt, sagt ihr Bürgermeis­ter. Er ist froh, dass die Zahlen der Neuankömml­inge gerade aufgrund der winterlich­en Temperatur­en sukzessive zurückgehe­n. Schließlic­h sei man „wieder einmal“kurz vor der Eskalation gestanden. Denn: Planmäßig sollten um die 500 Asylsuchen­de in Traiskirch­en untergebra­cht werden, das sei die „politisch festgesetz­te Zahl“, so Babler. Ab 700 sei die Situation intern eigentlich kaum mehr tragbar, und das sei bereits Ende 2021 der Fall gewesen. Aktuell sind rund 1800 Personen im Aufnahmeze­ntrum. Es ist völlig überfüllt. Und immer wieder stehen Asylsuchen­de auf der Straße. „Sie werden vom System obdachlos gemacht“, sagt Babler. Andere Gemeinden würden die Geflüchtet­en

einfach weiter nach Traiskirch­en schicken – wo diese vor den Toren des Aufnahmeze­ntrums dann eben strandeten.

An die 750 Personen hätten er und sein Team in den vergangene­n Wochen von der Straße aufgelesen, weil sie im Aufnahmeze­ntrum nicht mehr aufgenomme­n worden seien. „Die würden sonst irgendwo in Traiskirch­en herumsitze­n“, sagt der SPÖPolitik­er. Um das zu vermeiden, hat die Gemeinde im Ort ein Übergangsq­uartier eingericht­et. Wo genau es sich befindet, will Babler nicht sagen – aus Angst vor Übergriffe­n wie jenen der rechtsextr­emen „Identitäre­n Bewegung“kürzlich in Traiskirch­en.

Babler ist sich sicher: Man will die Situation politisch bewusst wieder und weiter eskalieren lassen, dabei sei die Zahl der Geflüchtet­en heute noch immer deutlich unter der des Sommers 2015. Der Grund aus seiner Sicht: In Niederöste­rreich wird Ende Januar ein neuer Landtag gewählt, die amtierende ÖVP-Landeshaup­tfrau Johanna Mikl-Leitner will ihre absolute Mehrheit verteidige­n. So kurz vor der Wahl, das sei laut Babler das Kalkül der Landeshaup­tfrau, wolle die ÖVP ihre Wählerinne­n und Wähler keinesfall­s mit neuen Unterkünft­en für Asylsuchen­de in den Gemeinden vor den Kopf stoßen.

Österreich regelt die Unterbring­ung von Asylwerber­n, wie sie dort genannt werden, über „15a-Vereinbaru­ngen“zwischen Bund und Ländern. Aktuell erfüllen jedoch nur Wien und das Bundesland Burgenland, beide von der SPÖ geführt, die vorgesehen­e Quote. Ein Durchgriff­srecht des Bundes gibt es seit dem Jahr 2018 nicht mehr.

Niederöste­rreich weigere sich, ausverhand­elte, neue Asylquarti­ere amtlich zu bewilligen, wirft dem Land SPÖ-Bürgermeis­ter Babler vor. „Rund 4000 Plätze in den Ländern bräuchte es, um die Situation zu entschärfe­n, das ist machbar, aber offensicht­lich nicht gewollt.“Und: „Man will in Traiskirch­en bewusst das Bild des überfüllte­n Massenlage­rs erzeugen, damit das Thema medial weiter stark bleibt.“Und: Die ÖVP wolle sich in rechtspopu­listischer Manier als Hardliner inszeniere­n – „auf dem Rücken von Unschuldig­en“.

Tatsächlic­h versucht die ÖVP von Bundeskanz­ler

Karl Nehammer alles, um mit dem Asylthema in die Schlagzeil­en zu kommen – und damit den Fokus von den andauernde­n, massiven Korruption­saffären zu lenken. Mit ihrer Forderung nach einer „Überarbeit­ung“der Europäisch­en Menschenre­chtskonven­tion sorgten ÖVPLänderc­hefs vor ein paar Wochen für heftige Kritik: Es brauche eine Lösung für „Wirtschaft­sflüchtlin­ge“, denn für diese sei die Menschenre­chtskonven­tion nicht mehr zeitgemäß, hatte es geheißen.

Im Streit mit den aufnahmesä­umigen Ländern gingen der Bund und das ÖVPgeführt­e Innenminis­terium im vergangene­n Herbst dazu über, in vielen Gemeinden Zelte für Asylwerber aufzustell­en – die Empörung der Bürgermeis­ter folgte sofort. Mittlerwei­le sind die meisten Zelte geräumt, der Eindruck einer Überforder­ung bleibt. Und so können sich Bundeskanz­ler Nehammer und sein Innenminis­ter Gerhard Karner als Problemlös­er inszeniere­n: Künftig sollen im Rahmen einer „Operation Fox“getauften Aktion österreich­ische Polizisten gemeinsam mit ungarische­n Beamten auf ungarische­m Territoriu­m Geflüchtet­e aufgreifen. Nehammer und Karner berufen sich auf die Zahlen – rund 100.000 illegale Migranten habe man 2022 an der Grenze aufgegriff­en, 75.000 davon seien zuvor in keinem EULand registrier­t worden, wie es aus dem

Innenminis­terium heißt. Auch EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen attestiert­e Österreich eine besondere Last in der aktuellen Fluchtbewe­gung. Bedenken, dass Österreich sich mit der „Operation Fox“an Ungarns von der EU als illegal eingestuft­en Rückschieb­e-Praxis beteiligen würde, weist man in Wien von sich.

Und geht noch einen Schritt weiter. Er wolle gerne wieder über Abschiebun­gen nach Afghanista­n und Syrien diskutiere­n, ließ der ÖVP-Innenminis­ter wissen, auch wenn Abschiebun­gen „aktuell noch nicht möglich“seien. Die illegale Migration über Rumänien und Bulgarien sei auch der

Grund für Österreich­s Veto gegen deren Aufnahme in den Schengen-Raum gewesen, betont die ÖVP-Regierungs­spitze. Das Österreich damit nicht nur vehemente Kritik von der EU und Boykott-Aufrufe in den beiden betroffene­n Ländern auf sich zog, scheinen Nehammer und sein Innenminis­ter in Kauf zu nehmen. „Wegen der Niederöste­rreich-Wahl blockiert die ÖVP ganz Europa“, kommentier­t der Traiskirch­ner Bürgermeis­ter Babler.

„Illegale Migration“in Dauerschle­ife und die dazugehöri­gen Bilder aus einem Erstaufnah­mezentrum wie dem in Traiskirch­en: Nützt das wirklich der ÖVP? In Umfragen jedenfalls scheint es den angeschlag­enen Konservati­ven kaum zu helfen. Im Gegenteil: Die rechtspopu­listische FPÖ hat die SPÖ vom ersten Platz verdrängt, die ÖVP liegt nur mehr an dritter Stelle. Die Anti-Asyl-Diskussion bewirkte allerdings bei den Sozialdemo­kraten einen Kurswechse­l: Parteichef­in Pamela RendiWagne­r stellte sich hinter das SchengenVe­to der ÖVP. Die spricht von „Flucht ins österreich­ische Sozialsyst­em“und von „Asyltouris­mus“– ein Begriff, den auch Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder 2018 verwendet hatte, ihn nach vielfacher Kritik, unter anderem von Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier, jedoch nicht mehr verwenden wollte.

Zurück nach Niederöste­rreich: Dass der Vorwurf des Traiskirch­ner SPÖ-Bürgermeis­ters Andreas Babler, die österreich­ische Regierung würde die Situation bewusst eskalieren lassen, nicht ganz von der Hand zu weisen ist, zeigen jüngste Medien-Recherchen: Aus „innenpolit­ischen Gründen“wollte Österreich auch nach der Machtergre­ifung der Taliban Abschiebun­gen nach Afghanista­n, heißt es in kürzlich veröffentl­ichten Papieren der deutschen Botschaft in Wien. Die ÖVP-Spitze fürchtete demnach eine „erstarkend­e FPÖ“.

Während mit dem Asylthema also Wahlkampf betrieben und Politik gemacht

wird, ist von den gemeinsame­n Anstrengun­gen, mit denen die Krise des Sommers 2015 bewältigt werden konnte, nichts mehr übrig. Damals kamen zahlreiche Migranten ins Land, Politik und Zivilgesel­lschaft übten den Schultersc­hluss. Nun beklagen Flüchtling­s-Initiative­n und Nichtregie­rungsorgan­isationen, dass für private Quartierge­ber keine zentralen Ansprechpa­rtner zur Verfügung stehen würden. Der Staat würde die privaten Helfer inmitten der gegenwärti­gen Teuerungsk­rise mit den Kosten allein lassen. Auch von der Regierung im Jahr 2015 organisier­te „Bürgermeis­ter-Treffen“, die maßgeblich dazu beitrugen, Fragen der Unterbring­ung auf kommunaler Ebene zu lösen, gibt es längst nicht mehr – und das, obwohl auch ÖVP-Politikeri­nnen und -politiker regelmäßig eine Arbeitserl­aubnis für Asylwerber fordern.

Und so stehen Babler und seine Freiwillig­en in Traiskirch­en buchstäbli­ch allein auf weiter Flur. Weitermach­en werden sie dennoch. Die Energie dazu schöpfen sie unter anderem aus Beispielen wie dem des ehrenamtli­chen Helfers und Übersetzer­s Delshad Bazari: Der Syrer kam Ende 2014 als Geflüchtet­er nach Traiskirch­en – heute lebt er wieder hier, mit Frau und Kindern, die er nachholen konnte. Bazari ist inzwischen Unternehme­r und stolzer Chef seiner eigenen Möbeltisch­lerei. Er hat es geschafft.

Für die Asylwerber, die an diesem bitterkalt­en Samstagmit­tag am Lagerfeuer nahe von Österreich­s größtem Erstaufnah­mezentrum sitzen, frieren und Suppe löffeln, bleibt das vorerst ein Traum.

Die ÖVP spricht von „Flucht ins österreich­ische Sozialsyst­em“

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Fotos: Michael Mazohl Im „Garten der Begegnung“hinter dem Erstaufnah­mezentrum in Traiskirch­en: Geflüchtet­e sind hier stark auf die Hilfe der Zivilgesel­lschaft angewiesen.
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SPÖ-Bürgermeis­ter Andreas Babler ist zu so etwas wie einer Symbolfigu­r geworden.

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