Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Krankenhäuser schlagen Alarm
Die Krise an den Kinderkliniken droht auf das gesamte Gesundheitssystem überzugreifen. Auch immer mehr Arztpraxen leiden unter Personalmangel und wachsenden Krankenständen.
Berlin Die angespannte Situation an den Kinderkliniken und der hohe Krankenstand in allen Fachabteilungen werden nach Ansicht der Krankenhäuser zunehmend zu einer akuten Belastung für das gesamte Gesundheitssystem. „Wir erleben gerade, dass alle Bereiche der Gesundheitsversorgung an ihre Grenzen stoßen“, sagt der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß. „Die Situation in den Kinderkliniken in Deutschland ist dramatisch“, warnt Gaß. Laut einer Umfrage der Krankenhausgesellschaft geben 59 Prozent der Krankenhäuser an, über nicht mehr ausreichend Pflegepersonal auf Kinderstationen zu verfügen.
Die drohende Überbelastung greife auf das gesamte Gesundheitssystem über, sagt Gaß. „Niedergelassene Ärzte haben ihre Kapazitäten ausgeschöpft und sind durch Krankheitsfälle zusätzlich beeinträchtigt“, erklärte er. „Dasselbe gilt für die Krankenhäuser, deren Betten knapp werden und die die Überlastung des niedergelassenen Bereichs kaum noch ausgleichen können.“In fast jedem Krankenhaus mit Kinder-Notfallaufnahme sei die Auslastung seit der Infektionswelle des Respiratorische Synzytialvirus (RSV) und der Lieferengpässe bei Medikamenten stark gestiegen.
„Zum Teil werden Kinder wegen der Nichtverfügbarkeit von Medikamenten in der ambulanten Behandlung ins Krankenhaus eingewiesen“, berichtet Gaß. „Das sind unhaltbare Zustände.“Laut Erhebungen der Krankenhausgesellschaft
verzeichnet jede dritte deutsche Klinik einen Anstieg der Notaufnahmen um 40 bis 60 Prozent. Gleichzeitig liege jedoch der Krankenstand beim Klinikpersonal bei bis zu zehn Prozent und damit deutlich über den im Winter üblichen Zahlen.
„Der Krankenstand in der Gesellschaft ist aktuell extrem hoch, so etwas habe ich noch nicht erlebt“, erklärt auch der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin, Christian Karagiannidis
in der Rheinischen Post. In vielen Regionen gebe es so gut wie keine freien Intensivbetten mehr. Hauptproblem sei nicht mehr Corona. „Derzeit kämpfen wir gegen sehr breit gefächerte Krankheitsbilder: Grippe, RS-Virus, Corona und andere Atemwegserkrankungen, dazu die üblichen Notfälle.“
Laut einer Umfrage des Deutschen Krankenhausinstituts können 59 Prozent der Kinderkliniken und Krankenhäuser mit Kinderabteilungen aktuell die gesetzlichen Pflegeuntergrenzen nicht mehr
einhalten. Das heißt, dass das Krankenpflegepersonal sich derzeit um deutlich mehr Patientinnen und Patienten kümmern müssen, als dies pro Pflegekraft eigentlich erlaubt ist.
Zugleich zeigen sich die Kliniken skeptisch, ob die von SPDBundesgesundheitsminister Karl Lauterbach angekündigten Sofortmaßnahmen für eine Entspannung der Lage sorgen: 85 Prozent der Krankenhäuser halten es der Umfrage zufolge für nicht sinnvoll, Personal von Erwachsenenstationen
für die Versorgung von Kindern und Jugendlichen einzusetzen. Zwölf Prozent der Krankenhäuser können bereits Pflegepersonaluntergrenzen in Fachabteilungen nicht mehr einhalten, weil sie Personal auf die Kinder- und Jugendkliniken verlegen mussten.
Die Kinderkliniken sehen der Umfrage zufolge die Hauptursache der Krise zu über 95 Prozent im generellen Fachkräftemangel und der unzureichenden Finanzierung ihrer Versorgungsaufgabe. Für 86 Prozent ist zudem der überdurchschnittliche Krankenstand für die gegenwärtige Krise mitverantwortlich.
Dementsprechend fordern fast alle Kliniken eine grundsätzliche Reform der Krankenhausfinanzierung. Sie dringen auf von Fallpauschalen unabhängigere Vergütung, um die grundsätzliche Versorgung finanziell sicherzustellen. Ähnliches forderte kürzlich eine von Minister Lauterbach eingesetzte Expertenkommission.
„Die Situation in den Kinderkliniken zeigt, dass es nicht ausreicht, Mittel im Krankenhaussystem nur umzuverteilen“, sagt Krankenhausgesellschaftschef Gerald Gaß. „Geld zu verteilen, das vorher an anderer Stelle abgezogen wurde, wird kaum helfen, die Versorgung der kleinen Patientinnen und Patienten nachhaltig und langfristig zu sichern“, warnt er. „Wir sehen auch, dass den Krankenhäusern in Zukunft eine größere Bedeutung in der ambulanten Versorgung zukommen muss, nicht nur, weil im niedergelassenen Bereich die Kapazitätsgrenze erreicht ist. In der Kinderheilkunde knirscht es gerade überall, egal ob im stationären oder im niedergelassenen Bereich.“