Augsburger Allgemeine (Land Nord)
„Wunden verheilen, Narben bleiben“
Der frühere Siemens-Chef Heinrich von Pierer blickt mit 81 Jahren zurück auf sein Leben. Familie und Freunde gaben ihm in schwierigen Zeiten nach der Korruptionsaffäre Halt. Der Manager erinnert sich auch an ein Abendessen in seinem Haus mit Schröder und
Herr von Pierer, Sie haben in der Siemens-Korruptionsaffäre in Griechenland einen „Freispruch erster Klasse“bekommen, wie Sie betonen. Können Sie mit der Sache abschließen? Im Zuge des Skandals um dubiose Zahlungen von 1,3 Milliarden Euro hatten Sie als AufsichtsratsChef des Konzerns abgedankt.
Heinrich von Pierer: Ja, ich habe politische Verantwortung übernommen, aber keine rechtliche. Das Verfahren in Griechenland dauerte noch einmal acht Jahre. Das war ein ewiges Auf und Ab. Die Staatsanwaltschaft hatte schon einmal Freispruch für mich beantragt.
Dann gab es eine böse Überraschung.
Pierer: Plötzlich verurteilte mich das Gericht in Athen völlig überraschend, abweichend vom Antrag der Staatsanwaltschaft und nicht nachvollziehbar zur Maximalstrafe von 15 Jahren Gefängnis. Ich bin dann 2019 in Berufung gegangen. Nun erlebte ich einen fairen Prozess, der wirklich in einen Freispruch erster Klasse mündete. Wenn ich all die Jahre zusammenzähle, musste ich mich rund 16 Jahre Vorwürfen erwehren. Gegen mich fand lange ein Kesseltreiben statt. Das war vor allem für meine Familie eine enorme Belastung.
Wie sehr hat Sie das persönlich belastet? Pierer: Ich habe das alles auch dank der Unterstützung meiner Familie und guter Freunde ganz gut verkraftet. Für mich ist die Sache nun beendet.
Wirklich ganz beendet?
Pierer: Wunden verheilen, Narben bleiben. Ich kann nicht alles vergessen. Aber es belastet mich nicht mehr. Ich bin weder in Deutschland, in Griechenland noch sonst wo wegen der Korruptionsaffäre verurteilt worden.
Aber Sie haben an Siemens fünf Millionen Euro Schadenersatz gezahlt.
Pierer: Meine Frau und mein Bruder, der Anwalt war, haben mir damals geraten, einen Schlussstrich zu ziehen. Manchmal befindet man sich eben in einer Situation, in der sich die Dinge nicht so verhalten, wie man es mag.
Was wäre passiert, wenn Sie weitergekämpft
und dem Druck von Siemens nicht nachgegeben hätten?
Pierer: Dann hätte ich mindestens zehn Jahre oder länger einen Prozess gegen ein auch finanziell potentes und damals zum rigiden Vorgehen entschlossenes Unternehmen führen müssen. Es war also eine Frage der Klugheit, den Streit im Wege eines Vergleichs ausdrücklich ohne Anerkennung einer Schadenersatzpflicht beizulegen. Ich wollte nicht wie Michael Kohlhaas in der Novelle von Heinrich von Kleist mit dem Kopf durch die Wand gehen.
Bei Kohlhaas endete das ja böse.
Pierer: Ich bin kein Kohlhaas. Ich habe die absolut richtige Entscheidung getroffen, die mir danach ein ruhiges Leben beschert hat. Ich konnte ein Beratungsunternehmen aufziehen, halte seit über 15 Jahren an der Universität Erlangen-Nürnberg ein Seminar für gute Unternehmensführung, nehme Beirats- und Aufsichtsratsmandate wahr. Bis vor kurzem saß ich im Verwaltungsbeirat des FC Bayern, aus dem ich aus Altersgründen ausgeschieden bin. Das wäre alles so nicht möglich gewesen, wenn ich weiter gegen Siemens gekämpft hätte und es ständig zu neuen öffentlichen Angriffen gekommen wäre. Siemens war damals nicht gerade zimperlich. Bestimmte Medien, keineswegs alle, auch nicht.
Wie sind Sie eigentlich zu Siemens gekommen?
Pierer: Ich wäre beinahe Notar geworden. Ich bin dann aber durch einen Zufall bei Siemens gelandet, nachdem ein beeindruckender Siemens-Mann am großen Standort in Erlangen mich überzeugt hat, in die Rechtsabteilung als Jurist einzutreten. Nun hatte ich viel Glück. Denn in unserer Abteilung landeten große Projekte wie der Bau zweier Kernkraftwerke im Iran. Das war einer der größten Aufträge in der Siemens-Geschichte. Die Verhandlungen verliefen schwierig. Ich habe als junger Mann damals viel gelernt von meinem Partner auf der technischen Seite, aber auch von den Persern. Mit der persischen Revolution waren die Gespräche plötzlich beendet.
So fing ein zäher Rechtsstreit an.
Pierer: Die Lage wurde 1979 dramatisch. Der Telefonkontakt riss ab und wir hatten 3000 Menschen auf der Baustelle der Kraftwerke in Buschehr am Persischen Golf. Es ging um das Wohl unserer Beschäftigten. So wurde mein Kontakt zum Vorstand der Siemens-Kraftwerks-Tochter immer enger. Das war die Grundlage für meine spätere Karriere bei Siemens. Ein ewiger Rechtsstreit entfaltete sich zwischen dem Iran und Siemens, der erst 2004 durch ein Schiedsverfahren beigelegt werden konnte. Der Iran hatte uns zwischenzeitlich auf Schadenersatz über 15 Milliarden D-Mark verklagt, weil wir das Projekt nicht weitergeführt haben. Am Ende haben wir gewonnen.
Ist es richtig, dass Deutschland aus der Atomkraft aussteigt?
Pierer: Es ist falsch, dass Deutschland aus der Kernenergie aussteigt. In Europa gibt es etwa 150 Kernkraftwerke. Keines davon verfügt über den Standard wie die drei noch verbliebenen deutschen Kernkraftwerke, die wir jetzt abstellen. Diese drei Kernkraftwerke entsprechen der hohen deutschen Sicherheitstechnik und Qualität. Ich habe einst die kaufmännische Abrechnung für die drei Kernkraftwerke gemacht. Sie sind alle absolut betriebsfähig. Das Abstellen der drei herausragenden Kernkraftwerke ist in einer Notsituation wie dieser verantwortungslos.
Suchen Politiker denn noch Ihren Rat? Sie waren einst Berater von Helmut Kohl, Gerhard Schröder und Angela Merkel.
Pierer: Nein, aus dem politischen Beratungsgeschäft bin ich raus. Das müssen Jüngere, voll im Leben Stehende übernehmen. Zu Frau Merkel hatte ich die letzten Jahre keinen Kontakt mehr, aber gelegentlich noch zu Gerhard Schröder.
Warum hält der Kontakt zu Schröder so lange an?
Pierer: Auch weil wir lange miteinander Tennis gespielt haben.
Schröder hat hier eine spezielle Technik.
Pierer: Herr Schröder war ein engagierter Tennisspieler. Für mich ist Schröder einer der typischen Fußballspieler, die später mit einigem Talent anfangen, Tennis zu spielen, wenn ihre Fußballkarriere zu Ende geht. Schröder war ganz beweglich und stand eben gerne bei Doppel-Spielen knapp hinter dem Netz, um sich so missglückte Return-Bälle zu fischen und zu versenken. Wir haben schöne Doppel zusammen erlebt.
Haben Sie Schröder wegen seiner Russland-Nähe ins Gewissen geredet?
Pierer: Das kann ich gar nicht. Das sollen andere Leute machen. Ich glaube nicht, dass er mir zuhören würde.
Wie sehr blutet Ihnen beim Thema „Russland“das Herz? Siemens musste sich aus dem wichtigen Markt zurückziehen.
Pierer: Ich habe Putin einst auf Vermittlung von Gerhard Schröder kennengelernt. Das ist 20 Jahre her. Wir haben damals einen Vertrag über ICE-Züge für Russland verhandelt. Ich bedauere es sehr, dass sich Siemens aus Russland zurückziehen muss. Aber der Vorstand hatte keine Wahl. Er musste es tun.
Apropos Schröder: Er war Gast des Erlanger Friedens-Abendessens in Ihrem Haus.
Pierer: Die Gäste waren der damalige Kanzler Schröder und der einstige bayerische Ministerpräsident Stoiber. Die beiden waren nach der Bundestagswahl über Kreuz. Ich konnte mit Schröder und mit Stoiber gleichermaßen gut. Beide wollten unabhängig voneinander wieder zu einer vernünftigen Arbeitsebene zusammenfinden. Dann sagte ich zu ihnen: Ich kann euch nach Erlangen zu mir einladen.
Schröder und Stoiber sind gekommen.
Pierer: Das Abendessen fand dann ausgerechnet am Geburtstag meiner Frau bei uns statt. Anders ging es nicht. Meine Frau stand in der Küche und hat für Schröder und Stoiber gekocht.
War das Essen ein Erfolg?
Pierer: Ich holte guten französischen Rotwein aus dem Keller, den Schröder so gerne mag. Schröder und überraschenderweise auch Stoiber sprachen dem Rotwein kräftig zu und verbrüderten sich an diesem Abend. Ich wurde in die Diskussion kaum noch einbezogen, weil sich Schröder und Stoiber gegenseitig erklärt hatten, wie schwierig ihre Jugend war und wie kompliziert sich ihr jeweiliger Aufstieg gestaltete. Am Ende waren sie wieder normale politische Freunde, ja, sie haben sich wieder respektiert.
Manchmal ist es gut, sich auszusprechen.
„Es ist falsch, dass Deutschland aus der Kernenergie aussteigt.“
Pierer: Schröder hat an diesem Abend Stoiber angeboten, die Präsidentschaft der Europäischen Kommission in Brüssel zu übernehmen. Mit Jacques Chirac hatte er dieses Vorgehen schon abgesprochen. Sie haben dann verabredet, unsere Runde fortzusetzen. Als Nächstes wäre Edmund Stoiber mit einer Einladung dran gewesen. Dazu kam es nicht mehr. Das Essen hat jedenfalls seinen Zweck, zumindest einen Burgfrieden herbeizuführen, erfüllt. Weder Schröder noch Stoiber wussten, dass meine Frau Geburtstag hatte.
Schröder soll den von Ihnen ausgesuchten edlen Tropfen gerühmt haben.
Pierer (lacht): Schröder lobte den französischen Rotwein, obwohl ich für meine fränkische Sparsamkeit bekannt sei, wie er ironisch anmerkte. Dieser Abend war eine der lustigeren Veranstaltungen in meinem Leben. Stoiber hat übrigens nach längerer Bedenkzeit das Schröder’sche Angebot dann damals nicht angenommen.
Zur Person
Heinrich von Pierer, 81, fand 1969 zu Siemens. Von 1992 bis 2005 war er Vorsitzender des Vorstands des Konzerns. Danach wechselte er in den Aufsichtsrat des Unternehmens, dessen Vorsitz der Manager bis 2007 innehatte. Im Zuge der Siemens-Korruptionsaffäre legte von Pierer das Amt nieder.