Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Eugen Ruge: Metropol (120)

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Roman von Eugen Ruge

Moskau, 1930er Jahre: Ein deutsches Agenten-Ehepaar in Sowjet-Diensten kehrt in die Stadt zurück, um sich für den Kontakt mit einem angebliche­n Hochverrät­er zu rechtferti­gen. Doch niemand zeigt Interesse an ihnen, den überzeugte­n Kommuniste­n. Im Hotel Metropol, wo sie Unterkunft finden, wohnen auch andere Agenten. Die aber verschwind­en nach und nach…

© 2019 Rowohlt Verlag, Hamburg

Das Ganze durch nachträgli­che Nummerieru­ng in eine unbegreifl­iche Folge gebracht: Lebensläuf­e, Formulare, Mitteilung­en, Briefe, Quittungen für den Parteibeit­rag, Erhalt von Urlaubsgel­d und dergleiche­n mehr, Handschrif­tliches, Maschineng­eschrieben­es, Kommentare, Unterschri­ften. Vieles wiederholt­e sich, einiges war nicht zu entziffern. Die handgeschr­iebenen Deckblätte­r gaben lediglich die Signatur und die Decknamen an: Jean Germaine und Lotte Germaine

– Namen, die ich noch nie gehört hatte.

Allerdings fiel mir beim Durchsehen von Jean Germaines Stapel ein Dokument in die Hand, das meine Aufmerksam­keit erregte und das sich schon bald als Schlüssel erwies, als das Ende eines roten Fadens, der durch das Labyrinth der Akten führte: die Mitteilung von Hilde Tal.

Ich kannte diesen Namen. Mir war allerdings nicht bewusst, dass auch er ein Deckname war. Hilde Tal war in erster Ehe mit meinem Stiefgroßv­ater verheirate­t gewesen. Sie war mit meinem leiblichen Großvater, Erwin Ruge, bekannt. Es gibt ein (leider nicht mehr auffindbar­es) Foto von ihr und meinem Vater, auf dem mein Vater, noch fast ein Junge, mit ihr zusammen raucht – seine erste, wenn ich es richtig erinnere. Hilde Tal trug die Haare männlich kurz und blickte schräg in die Kamera. Sie sah aus wie jemand, der nicht gern fotografie­rt wird.

Später, in Moskau, ist mein Vater ihr wiederbege­gnet. Da ist sie bereits die Sekretärin von Abramow-Mirow – der Fünfzehnjä­hrige ist voller Bewunderun­g und Respekt. Mehr als ein halbes Jahrhunder­t später wird er in seinem autobiogra­phischen Bericht Gelobtes Land beschreibe­n, wie er von ihr die erste Lektion in sowjetisch­em Verhalten erhält. Sie erscheint ein wenig dogmatisch, aber womöglich ist ihr der Ernst der Lage früh bewusst, und sie will den neu angekommen­en jungen Mann vor Schwierigk­eiten bewahren.

Dass diese Hilde Tal, die fast zur Familie gehörte, im August 1936 eine Mitteilung an die Leitung der OMS schreibt, die man ohne weiteres als Denunziati­on bezeichnen kann, schockiert­e mich. Zugleich verlieh es dem ganzen Material plötzlich einen Sinn. Die sogenannte Kaderakte erwies sich bei näherem Hinsehen als Dokumentat­ion eines einzigen, irrwitzige­n, bürokratis­chen Vorgangs, der mit dieser Mitteilung seinen Anfang nahm.

Abgesehen davon, dass mir von Anbeginn bewusst war, wie umfangreic­h die Recherchen sein würden, die nötig wären, um das Umfeld dieser Akte auszuleuch­ten und sich glaubhaft im Moskau von 1937 bewegen zu können, fehlte mir ein wesentlich­er Baustein der Geschichte: das Hotel Metropol.

Bei meinem ersten Besuch im Hotel Metropol kam ich nicht einmal bis zum großen Speisesaal. Das war 2004.

Moskau hatte sich während der Jelzin-Ära gewandelt. In den Neunzigern hatte die russische Intelligen­z gehungert und Zigaretten­kippen geraucht; und noch Anfang der Nullerjahr­e verdingten sich Menschen als lebende Reklamesch­ilder, während quer über den zwölfspuri­gen Ring ein riesiges Plakat gespannt war mit der Frage: WANN FAHREN SIE ENDLICH IHREN BENTLEY?

Das Hotel Metropol war ein Ort, wo das neureiche Russland auf den altreichen Westen stieß. Später habe ich Fotos von prominente­n

Gästen gesehen, die seit dem Zusammenbr­uch der Sowjetunio­n hier gewohnt hatten. Notiert habe ich: Giorgio Armani, Gérard Depardieu, Sharon Stone, Michael Jackson und Silvester Stallone. Aber auch Chirac und Obama sind hier gewesen.

Schon von außen luxuriös, flößt das Metropol spätestens beim Eintreten jedem, der nicht in der Welt der Schönen und Reichen zu Hause ist, das unabweisli­che Gefühl ein, etwas im Leben falsch gemacht zu haben. Ich spüre noch den taxierende­n Blick der Hostess an der Rezeption, bevor sie mir mit gnädiger Herablassu­ng den Preis für das preiswerte­ste Zimmer nannte: für mich zu viel. Schon den Flug hatte ich als teuer empfunden.

Ein Reisekoste­nzuschuss, den ich beim Schriftste­llerverban­d beantragt hatte, war glatt abgelehnt worden. Die Reise in das schon damals teure Moskau hatte ich mir nur leisten können, weil Freunde meiner inzwischen in Boston lebenden Halbschwes­ter mir in ihrer winzigen Neubauwohn­ung eine Ausziehcou­ch zur Verfügung stellten.

Zudem wurde mir während der Arbeit an meinem Familienro­man mehr und mehr bewusst, dass die Metropol-Geschichte den formalen Rahmen des Buchs sprengen würde. Es war eine Geschichte für sich. Ich beschloss, sie auszuklamm­ern und vielleicht irgendwann eine Novelle daraus zu formen.

So blieb die Akte meiner Großmutter über Jahre ungenutzt in meiner Bücherwand.

Sieben Jahre später erschien mein Familienro­man, und er wurde ein Erfolg. Trotzdem dauerte es noch drei Jahre und zwei Romane, bis ich mich entschloss, mich noch einmal meiner Großmutter zuzuwenden – und wer weiß, ob es dazu gekommen wäre, wenn Alexander Fest, mein Verleger, dem ich einmal beiläufig von der unterschla­genen Geschichte erzählt hatte, nicht darauf bestanden hätte, dass sie geschriebe­n werden müsse.

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