Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Ein Fest für die heiligen sieben Engel
Augsburg ist für viele Jesiden zum religiösen Zentrum geworden. Am Wochenende feiern sie ihren höchsten Feiertag. Ein Besuch auf dem Oberhauser Friedhof ist Pflicht.
Drei Wochen lang hat Raida Ido gefastet. Nicht alle Tage, nur von Dienstag bis Donnerstag, als Vorbereitung auf die Freitage. Schon in der Früh ist Ido mit Rashid Khidir, dem Vorsitzenden des Ezidischen Kulturvereins, auf dem Friedhof im Augsburger Stadtteil Oberhausen. Hier steht seit 2019 der Qob, die Pilgerstätte der Jesiden, ohne deren Besuch kein Feiern und kein Trauern möglich ist. Heute ist der Hauptfeiertag, das Ezi-Fest zu Ehren Gottes. Gott, so die Überlieferung, rief die heiligen sieben Engel ins Leben. Diese schufen die Erde, reinigten das Meer, fasteten Dienstag, Mittwoch und Donnerstag, um am Freitag den Abschluss der Schöpfung zu feiern. Jesiden sind Kurden, ein Beitritt zu ihrer Religionsgemeinde ist nicht möglich, geheiratet wird bis heute innerhalb der Gemeinschaft. Ein Besuch.
Den drei Meter hohen, achteckigen Qob sieht im Schneegestöber erst, wer die kleine Anhöhe in der nordwestlichsten Ecke des Augsburger Nordfriedhofs erreicht. Auf dem Gräberfeld um diesen weißen Turm liegen drei Erwachsenenund zwei Kindergräber. Die kleine doppelflügelige Holztür des Qob steht offen, der winzige Raum ist Idos Ritualplatz. Auf einem kleinen Tischchen neben ihr die wichtigsten Symbole des Jesidentums: weiße Baumwolldochte aus Lalish, dem heiligen Zentrum des jesidischen Glaubens im nördlichen Irak. Eine Schale mit Weihrauch knistert und qualmt, eine Kranzstele aus Bronze, auf der eine
Öllampe flackert. Der Docht schwimme in Olivenöl, sagt Ido. Sie sind handgemacht, die Baumwolle stammt ebenfalls aus Lalish.
Hinter der Stele eine kleine Bronzefigur: Melek Taus, der „Engel Pfau“. Er ist der höchste der sieben Engel des Jesidentums und gilt als Mittler zwischen Schöpfer und Menschen. In der Geschichte war
Außenstehenden die Verehrung des Pfaus suspekt. In Melek Taus sah man den Teufel. Dass es im Jesidentum keinen Gegenspieler zu Gott gibt, erregte ebenfalls Misstrauen, und so wurden Jesiden als „Teufelsanbeter“über Jahrhunderte verfolgt und ermordet. Zuletzt durch den „Islamischen Staat“. Die Terrororganisation war 2014 in die Siedlungsgebiete bei Mossul eingefallen, versklavte Frauen und Mädchen, errichtete ein beispielloses Horrorregime und erschoss Tausende Mitglieder der Glaubensgemeinschaft. Jesiden flohen, viele schafften es auch nach Augsburg, wo der Ezidische Kulturverein sie aufnahm. Dessen Gründungsmitglieder waren Jesiden, die bereits zu Beginn der 2000erJahre vor dem Bürgerkrieg im Irak geflohen waren.
Familie Omeed stapft durch den Schnee. Sie lebt in Königsbrunn und stammt aus dem jesidischen Dorf Mahad in der Ninive-Ebene. Ernst ziehen die vier die Schuhe aus, bevor sie den Teppich betreten, der zur Holztür des Schreins führt. Einer nach dem anderen küssen sie die Türschwelle und die beiden Seiten des Türstocks. Raida Ido begrüßt sie, verteilt Süßigkeiten und Kekse. „Ohne Zucker“, erklärt sie. Das ist ihr wichtig. Auch Ido ist aus dieser Region nahe Mossul. Sie ist Deutsche, hat sechs Kinder, die in Deutschland verstreut leben und arbeiten. Und sie ist ein „Koçek“, stammt aus einer Familie, die befugt ist, Rituale durchzuführen. Mutter und Vater gehörten dieser Funktionselite an, die auch als Wahrsager und als Verbindung zu den Toten eine wichtige Rolle spielen. In diesem Jahr ist sie außerdem für den Qob-Dienst zuständig. „Wer den Schlüssel hat, kommt an Feiertagen und zwei Mal in der Woche hierher, zündet die Lampe an, sodass die Jesiden eine Anlaufstelle haben und kurz unserer Heiligen gedenken können“, sagt sie.
Am Nachmittag lassen es die Jesiden in der Bobinger Location „Mavi“krachen. 800 Gäste haben sich eingefunden. Liveband und kurdische Musik, Kinder aller Altersstufen toben herum, die Jungen in Anzügen, die Mädchen in festlichen bunten Kleidern. Viele Männer in eleganten Dreiteilern, ältere auch in traditioneller kurdischer Festkleidung mit dem obligatorischen rot-weißen Tuch um den Kopf. Das Warm-up ist schnell gemacht, bald schon schieben sich alle Hand in Hand zu komplexen Rhythmen und Reihentänzen durch die Halle. Ein Duo mit Daf und Schabab, einer Handtrommel und einer Art Oboe, zieht durch den Mittelgang. Vor ihnen Raida Ido, eine Schale mit glühendem Weihrauch in der Hand. Sie trägt jetzt Weiß, die traditionelle Farbe für Frauen und Männer ihrer Funktion.
Ein Mann aus der Kaste der Geistlichen hält eine Ansprache auf Kurmandschi, dem kurdischen Dialekt der irakischen Jesiden. Es geht um Frieden, Zusammenhalt, Achtung der Älteren und der Religion. „Wir sind sehr froh, hier zu sein. Deutschland hat uns sehr viel gegeben“, sagt Vereinsvorstand Elias Falah Zeido. Er schätzt, dass insgesamt 1800 bis 2000 Jesiden in Augsburg leben. Die meisten ließen sich, so schnell es geht, einbürgern. Dann sei auch eine Reise in das heilige Lalish gefahrlos möglich, sagt er. Er hat sieben Kinder: eine Zahnarzthelferin, eine Tochter auf dem Gymnasium, einer bald im dualen Studium bei Kuka.
Und wie sieht es aus mit dem strengen Verbot, außerhalb der Religionsgemeinschaft zu heiraten? Zeido wiegt nachdenklich den Kopf. „Wenn mein Sohn das unbedingt wollte und wirklich dafür kämpft, kann ich es ihm natürlich nicht verbieten“, sagt er. Der Vorsitzende Khidir hingegen schüttelt auf die Frage energisch den Kopf. Auch sein Sohn sagt: „Das wäre gegen unsere Tradition. Es käme mir auch gar nicht in den Sinn.“Wie für Aleviten und assyrische Christen ist Augsburg auch für die nahöstliche Minderheit der Jesiden zu einem religiösen und sozialen Zentrum geworden. Selbst der Baba Gawan, die rechte Hand des religiösen Oberhaupts, reiste aus dem irakischen Lalish an und besuchte am Tag vor dem großen Fest den ersten Qob Deutschlands auf dem Oberhauser Nordfriedhof.
Jesiden werden vom „Islamischen Staat“verfolgt