Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Die EU hat ein hartes Jahr hinter sich
Leitartikel Wieder einmal hat sich in Brüssel gezeigt, dass nationale Egoismen über dem Gemeinschaftsgedanken stehen. Warum es trotzdem Hoffnung gibt.
Die unzähligen Politiker, Diplomaten und Beamten, die sonst das Europa-Viertel beleben, waren bereits ausgeschwirrt in ihre Heimatländer, die Machtzentrale in der belgischen Hauptstadt wirkte so verschlafen wie immer zum Start des Wochenendes. Doch da hatte das Drama längst begonnen im Brüsseler Ableger des EU-Parlaments, wo Polizisten Büros versiegelten, nahe gelegene Wohnungen durchsuchten und erste Verdächtige festnahmen. Der mutmaßliche Korruptionsskandal um die mittlerweile abgesetzte Vizepräsidentin Eva Kaili, der vor knapp zwei Wochen erstmals an die Öffentlichkeit kam, erschüttert seitdem die Europäische Union. Und Beobachter wie Betroffene schwanken zwischen Wut, Fassungslosigkeit und Verzweiflung: Was denn noch? Wie viel mehr Krise kann die EU dieses Jahr ertragen? Aus einer ganzen Fülle an schwierigen Jahren, die die Staatengemeinschaft in der Vergangenheit erlebte, sticht 2022 tatsächlich als besonders schwierig heraus.
Es herrscht wieder Krieg. Und der gilt als Angriff auf alles, wofür die EU steht: Demokratie, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit. Der Überfall Moskaus auf die Ukraine mit dem Ziel, das Land in seiner Existenz zu vernichten, bedeutete eine tief greifende Zäsur in der europäischen Geschichte. Ausgerechnet von Russlands Aggressor Wladimir Putin wurde die Gemeinschaft einerseits an ihre liberalen Werte erinnert, die die Gemeinschaft zumindest in der Theorie zusammenhalten sollen, und andererseits daran, dass sie ein Friedensprojekt ist, auch wenn dieses Narrativ oft überstrapaziert wird. Und tatsächlich, die Europäer reagierten mit einer beispiellosen Geschlossenheit. Das war zunächst beeindruckend, zeigte die Einigkeit doch, wie viel Macht das Projekt ausstrahlen kann, wenn es zusammensteht und nicht aufgrund von inneren Streitigkeiten ständig gegen Auflösungserscheinungen ankämpfen muss.
Doch spätestens nach fünf Sanktionspaketen gegen den Kreml bröckelte das Gebilde. Wie unter dem Brennglas zeigte ein Sondergipfel nach dem anderen, dass nationale Interessen eben doch den europäischen Solidaritätsgedanken zu übertrumpfen schienen wie etwa in der Energiepreiskrise. Oder nicht? Fakt ist nämlich auch: Am Ende aber geht es bei den 27 Partnern, die jeweils ihre eigenen Sorgen plagen und bestenfalls das Wohl ihrer Wähler im Blick haben, ganz nüchtern um Mittelwege. Der monströse Apparat ist das Musterbeispiel einer Kompromissmaschine.
Erschwerend kam 2022 dazu, dass Ungarns Chef-Störenfried Viktor Orban seine Spielchen auf die Spitze trieb. Dass eine Mehrheit der EU-Staaten sich gerade erst darauf verständigte, Milliardenzahlungen einzufrieren, gehört jedoch zu den wenigen guten Nachrichten dieses Jahres. Denn seitdem ist die EU nicht nur wieder handlungsfähig. Die Entscheidung hat auch gezeigt, dass das Gezerre um strittige Punkte unerträglich ist, wenn bei wichtigen Beschlüssen Einstimmigkeit vorausgesetzt wird. Das nutzen Länder regelmäßig für Erpressungsversuche.
Schon jetzt ist offensichtlich, wie die EU in eine Migrationskrise stolpert. Lösungen stehen seit Jahren aus, wodurch die Herausforderung der illegalen Einwanderung immer wieder auf der Gipfel-Agenda landet. Dabei müssten die Partner darauf setzen, dass die EU nicht gleich auseinanderfällt, wenn ein Land mal überstimmt wird. Willkommen wäre Vertrauen in die demokratische Mehrheitsvernunft.
Der Krieg ist ein Angriff auf alles, wofür die EU steht