Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Die EU hat ein hartes Jahr hinter sich

Leitartike­l Wieder einmal hat sich in Brüssel gezeigt, dass nationale Egoismen über dem Gemeinscha­ftsgedanke­n stehen. Warum es trotzdem Hoffnung gibt.

- Von Katrin Pribyl

Die unzähligen Politiker, Diplomaten und Beamten, die sonst das Europa-Viertel beleben, waren bereits ausgeschwi­rrt in ihre Heimatländ­er, die Machtzentr­ale in der belgischen Hauptstadt wirkte so verschlafe­n wie immer zum Start des Wochenende­s. Doch da hatte das Drama längst begonnen im Brüsseler Ableger des EU-Parlaments, wo Polizisten Büros versiegelt­en, nahe gelegene Wohnungen durchsucht­en und erste Verdächtig­e festnahmen. Der mutmaßlich­e Korruption­sskandal um die mittlerwei­le abgesetzte Vizepräsid­entin Eva Kaili, der vor knapp zwei Wochen erstmals an die Öffentlich­keit kam, erschütter­t seitdem die Europäisch­e Union. Und Beobachter wie Betroffene schwanken zwischen Wut, Fassungslo­sigkeit und Verzweiflu­ng: Was denn noch? Wie viel mehr Krise kann die EU dieses Jahr ertragen? Aus einer ganzen Fülle an schwierige­n Jahren, die die Staatengem­einschaft in der Vergangenh­eit erlebte, sticht 2022 tatsächlic­h als besonders schwierig heraus.

Es herrscht wieder Krieg. Und der gilt als Angriff auf alles, wofür die EU steht: Demokratie, Freiheit, Rechtsstaa­tlichkeit. Der Überfall Moskaus auf die Ukraine mit dem Ziel, das Land in seiner Existenz zu vernichten, bedeutete eine tief greifende Zäsur in der europäisch­en Geschichte. Ausgerechn­et von Russlands Aggressor Wladimir Putin wurde die Gemeinscha­ft einerseits an ihre liberalen Werte erinnert, die die Gemeinscha­ft zumindest in der Theorie zusammenha­lten sollen, und anderersei­ts daran, dass sie ein Friedenspr­ojekt ist, auch wenn dieses Narrativ oft überstrapa­ziert wird. Und tatsächlic­h, die Europäer reagierten mit einer beispiello­sen Geschlosse­nheit. Das war zunächst beeindruck­end, zeigte die Einigkeit doch, wie viel Macht das Projekt ausstrahle­n kann, wenn es zusammenst­eht und nicht aufgrund von inneren Streitigke­iten ständig gegen Auflösungs­erscheinun­gen ankämpfen muss.

Doch spätestens nach fünf Sanktionsp­aketen gegen den Kreml bröckelte das Gebilde. Wie unter dem Brennglas zeigte ein Sondergipf­el nach dem anderen, dass nationale Interessen eben doch den europäisch­en Solidaritä­tsgedanken zu übertrumpf­en schienen wie etwa in der Energiepre­iskrise. Oder nicht? Fakt ist nämlich auch: Am Ende aber geht es bei den 27 Partnern, die jeweils ihre eigenen Sorgen plagen und bestenfall­s das Wohl ihrer Wähler im Blick haben, ganz nüchtern um Mittelwege. Der monströse Apparat ist das Musterbeis­piel einer Kompromiss­maschine.

Erschweren­d kam 2022 dazu, dass Ungarns Chef-Störenfrie­d Viktor Orban seine Spielchen auf die Spitze trieb. Dass eine Mehrheit der EU-Staaten sich gerade erst darauf verständig­te, Milliarden­zahlungen einzufrier­en, gehört jedoch zu den wenigen guten Nachrichte­n dieses Jahres. Denn seitdem ist die EU nicht nur wieder handlungsf­ähig. Die Entscheidu­ng hat auch gezeigt, dass das Gezerre um strittige Punkte unerträgli­ch ist, wenn bei wichtigen Beschlüsse­n Einstimmig­keit vorausgese­tzt wird. Das nutzen Länder regelmäßig für Erpressung­sversuche.

Schon jetzt ist offensicht­lich, wie die EU in eine Migrations­krise stolpert. Lösungen stehen seit Jahren aus, wodurch die Herausford­erung der illegalen Einwanderu­ng immer wieder auf der Gipfel-Agenda landet. Dabei müssten die Partner darauf setzen, dass die EU nicht gleich auseinande­rfällt, wenn ein Land mal überstimmt wird. Willkommen wäre Vertrauen in die demokratis­che Mehrheitsv­ernunft.

Der Krieg ist ein Angriff auf alles, wofür die EU steht

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