Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Bauchlandung für Tunesiens Präsident Saied
Das nordafrikanische Land stürzt nach der Verweigerung der Bevölkerung bei den Wahlen in eine neue Krise.
Tunis Kais Saied hatte das Datum der Parlamentswahl in Tunesien mit Bedacht gewählt. Der autokratische Präsident des nordafrikanischen Landes rief die Bürger am Samstag an die Urnen, auf den Tag genau zwölf Jahre nach Beginn des Aufstandes gegen Machthaber Ben Ali im Jahr 2010. Saied wollte die Erinnerung an die Befreiung von der Diktatur nutzen, um ein Parlament von seinen Gnaden wählen zu lassen, doch er legte eine Bauchlandung hin: Nicht einmal neun Prozent der Wähler gaben ihre Stimme ab. Nun fordert die Opposition den Rücktritt des Präsidenten und Neuwahlen.
Saied, ein parteiloser Verfassungsrechtler, war 2019 zum Präsidenten gewählt worden. Mit dem Argument, dass die politische Elite des Landes wichtige Reformen verhindere, löste er im Sommer 2021 das Parlament auf, in dem die islamistische Ennahda-Partei die stärkste Kraft war. Fast im Alleingang arbeitete Saied eine neue Verfassung aus, die ihm als Staatsoberhaupt fast unbeschränkte Macht gibt und die Rechte des Parlaments beschneidet. Einen ersten Rückschlag erlitt Saied, als am Referendum über das neue Grundgesetz im Juli nur etwa 30 Prozent der Wähler teilnahmen. Als er am Samstag in das Wahllokal schritt, rief Saied die neun Millionen Wähler auf, im Namen von „Gerechtigkeit und Freiheit“abzustimmen. Doch Saieds Versuch misslang. Die meisten Parteien boykottierten die Wahl. Nur etwa 800.000 Tunesier – 8,8 Prozent der Wählerschaft – folgten dem Ruf des Präsidenten in die Wahllokale. Die Nationale Rettungsfront, ein Oppositionsbündnis aus der Ennahda-Partei und anderen Gruppen, verlangte Saieds Rücktritt. Zugleich rief das Bündnis seine Anhänger zu „massiven Protesten“auf.
Der Präsident äußerte sich zunächst nicht. Dass er sich nach dem Fiasko mit seinen politischen Gegnern auf einen Ausweg aus der Krise einigt, ist unwahrscheinlich, denn Saied verteufelt Parteien und Politiker seit Jahren. Auch mit den mächtigen Gewerkschaften hat er sich überworfen. Einige Kritiker des Präsidenten befürchten, dass der Konflikt nun in Gewalt umschlagen könnte. Eine hohe Staatsverschuldung, ein wachsendes Handelsbilanzdefizit und die weltweit steigenden Rohstoffpreise machen dem Staat zu schaffen. Für viele Menschen werden Lebensmittel knapp. Die Europäische Investitionsbank gab am Wochenende einen Kredit von 220 Millionen Euro für Tunesien frei, der vor allem die Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung sichern soll.
Immer mehr Tunesier versuchen über das Mittelmeer nach Europa zu fliehen. In den ersten zehn Monaten des Jahres kamen nach UN-Angaben knapp 17.000 tunesische Flüchtlinge in Italien an – mehr als im ganzen Jahr 2021.