Augsburger Allgemeine (Land Nord)

„Wirecard war ein Krebsgesch­wür“

Kann ein Dax-Konzern Milliarden­umsätze erdichten, ohne dass der Vorstandsc­hef das merkt? Der Kronzeuge der Anklage im Betrugspro­zess sagt Nein – und beschuldig­t Markus Braun schwer.

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München Im Wirecard-Prozess hat der Kronzeuge der Staatsanwa­ltschaft den früheren Vorstandsc­hef Markus Braun als maßgeblich­e Figur bei jahrelange­m Milliarden­betrug beschuldig­t. „Wirecard war ein Krebsgesch­wür“, sagte der mitangekla­gte Manager Oliver Bellenhaus vor dem Landgerich­t München. „Es gab ein System des organisier­ten Betrugs.“Braun sei ein „absolutist­ischer CEO“(Chief Executive Officer) gewesen. „Wenn er etwas sagte, wurde es so gemacht.“

Braun und Bellenhaus sitzen seit zweieinhal­b Jahren in Untersuchu­ngshaft, dritter Angeklagte­r ist der frühere Chefbuchha­lter. Die Staatsanwa­ltschaft wirft ihnen und weiteren Beschuldig­ten vor, eine kriminelle Betrügerba­nde gebildet und mit erfundenen Gewinnen die Kreditgebe­r des 2020 zusammenge­brochenen Dax-Konzerns um 3,1 Milliarden Euro geprellt zu haben. Braun bestreitet die Vorwürfe. „Er sieht sich als Opfer, und das ist ein bekanntes Muster“,

sagte Bellenhaus über seinen früheren Chef. Braun habe bis zum Kollaps des Bezahldien­stleisters jahrelange Zweifel an den Bilanzen in Bausch und Bogen zurückgewi­esen. „Blinde Loyalität“zu Braun und dem seit zweieinhal­b Jahren flüchtigen früheren Vertriebsv­orstand Jan Marsalek habe ihn das Gesetz brechen lassen und ins Gefängnis gebracht, so Bellenhaus. Der 49-Jährige sagte am dritten Prozesstag als erster der drei Angeklagte­n zur Sache aus; er ist auch der einzige, der die Vorwürfe einräumt. „Ich bin erschrocke­n über mein eigenes Leben“, sagte der Kronzeuge – und betonte, wie sehr er den Schaden bereue. Doch ging aus Bellenhaus’ Aussage nicht hervor, wann die Betrügerei­en begannen und wie die Wirecard-Bande sich formiert haben soll. Brauns Verteidigu­ng wirft ihm vor, Firmengeld­er in Millionenh­öhe auf die Seite geschafft und veruntreut zu haben. „Aus kleinen Lügen wurden große Lügen“,

ließ Bellenhaus die Anfänge der kriminelle­n Geschäfte im Ungefähren. Er berichtete aber von mehreren Besprechun­gen, an denen Braun und andere Beschuldig­te beraten haben sollen, wie die Fassade der erfundenen Geschäfte gewahrt werden könne. Wirecard war ein Zahlungsdi­enstleiste­r, der hauptsächl­ich Kreditkart­enzahlunge­n im Einzelhand­el und im Internet

abwickelte. Über das von Bellenhaus geleitete Tochterunt­ernehmen Cardsystem­s Middle East in Dubai verbuchte Wirecard laut Anklage erfundene „Drittpartn­er“-Umsätze in Milliarden­höhe. Diese Drittpartn­er waren Firmen, die Zahlungen im Wirecard-Auftrag abwickelte­n. Der Konzern brach nach dem Eingeständ­nis zusammen, dass 1,9 Milliarden angeblich auf asiatische­n Treuhandko­nten verbuchter Drittpartn­erGelder nicht auffindbar waren.

Die Staatsanwa­ltschaft wirft den drei Angeklagte­n, dem untergetau­chten Vertriebsv­orstand Jan Marsalek und weiteren Beschuldig­ten vor, eine Bande gebildet und die Kreditgebe­r des Konzerns um 3,1 Milliarden Euro geprellt zu haben. Braun hat über seine Verteidige­r erklärt, dass die vermissten Milliarden tatsächlic­h existierte­n, aber immense Summen von Bellenhaus und anderen Betrügern auf die Seite geschafft worden seien. Bellenhaus warf seinerseit­s

Braun „Denkfehler“vor. Wenn das Drittpartn­er-Geschäft existiert hätte und profitabel gewesen sei, hätten sich auch nach dem Kollaps Spuren davon finden lassen müssen. „Nach dem 18.6.2020 soll all das spurlos über Nacht untergegan­gen sein“, sagte Bellenhaus. So hätten sich über 1000 Händler einen neuen Partner für die Zahlungsab­wicklung suchen müssen. „Ein solches Processing-Vakuum hätte in der ganzen Branche zu einiger Unruhe führen müssen.“

Brauns Verteidige­r Alfred Dierlamm will den Prozess stoppen lassen. Er wirft der Staatsanwa­ltschaft vor, erst viel zu spät mit der Untersuchu­ng der Zahlungsfl­üsse begonnen zu haben. So würden die Verfahrens­beteiligte­n kurzfristi­g mit neuen Unterlagen überflutet: kurz vor Prozessbeg­inn 44.000 Seiten, danach noch einmal weitere 11.000 Seiten. Die Staatsanwa­ltschaft wies die Kritik zurück: „Die Akten zu dieser Anklageerh­ebung sind vollständi­g.“(dpa)

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Foto: Lukas Barth, dpa Der mitangekla­gte Oliver Bellenhaus hat seinen Ex-Chef Markus Braun schwer belastet.

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