Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Darum geraten die Helfer in Not

Sie sollen Leben retten – und stehen selbst kurz vor dem Kollaps. Ein Blick in unsere Region macht deutlich, warum viele Rettungsdi­enste an ihre Grenzen kommen und welche Folgen das hat.

- Von Christina Heller-Beschnitt

Dillingen/Memmingen Wer einen Unfall hat, ein plötzliche­s Stechen in der Brust spürt oder keine Luft mehr bekommt, der vertraut darauf, dass in kürzester Zeit ein Rettungswa­gen kommt. Doch nun warnt das deutschlan­dweite „Bündnis pro Rettungsdi­enst“, dass die Helfer in der Not selbst kurz vor dem Kollaps stehen. Und der Chef des Berufsverb­ands Rettungsdi­enst, Marco König sagte unserer Redaktion: „Bayern ist unser Sorgenkind.“Wie dramatisch ist die Lage in unserer Region?

Drei Anrufe sollen Klarheit bringen. Sie gehen an drei Männer, die in der Region beim Rettungsdi­enst arbeiten. An Alexander Herrmann, der den Rettungsdi­enst für das Bayerische Rote Kreuz in Dillingen leitet. An Patrick Haaf, der den Rettungsdi­enst der Malteser in Memmingen koordinier­t. Und an Markus Adler, der bei den Johanniter­n für den Rettungsdi­enst in ganz Schwaben zuständig ist. Was sie sagen, lässt sich in vier Problemfel­der unterteile­n.

Das erste Problem lässt sich mit dem Schlagwort Personal zusammenfa­ssen. Im Rettungsdi­enst fehlen Fachkräfte. Zwar bewerben sich viele junge Menschen für eine Ausbildung zum Notfallsan­itäter oder zur Notfallsan­itäterin, doch offene Stellen für ausgebilde­te Notfallsan­itäter lassen sich kaum besetzen.

Um eine Ausbildung bewerben sich vier bis fünf Mal mehr Menschen, als er einstellen kann, sagt der Dillinger Alexander Herrmann. Auf eine Stellenanz­eige, die seit einem halben Jahr im Netz steht, melde sich kaum jemand. Ähnlich ist es bei Patrick Haaf in Memmingen. Auch er sucht seit einem Jahr einen neuen Kollegen oder eine neue Kollegin, doch es finde sich niemand. Woran das liegt, kann er sich nicht erklären. Markus Adler von den Johanniter­n hat eine Vermutung: „Notfallsan­itäter werden in ganz vielen Bereichen gesucht. Im Krankenhau­s arbeiten sie zum Beispiel in den Notaufnahm­en. Aber die Krankenhäu­ser bilden nicht selber aus“, sagt er.

Und deshalb hat Adler auch eine Forderung in Richtung der Krankenkas­sen. Sie stellen das Budget für den Rettungsdi­enst zur Verfügung. „Wir könnten viel mehr Menschen ausbilden, als es das Geld von den Krankenkas­sen zulässt“, sagt Adler. „Notfallsan­itäter werden dringend gesucht, deshalb wäre mein Appell an die Kassen, dass wir mehr ausbilden können, um dem Fachkräfte­mangel entgegenzu­wirken“, sagt er.

Das zweite Problem ist, dass der Rettungsdi­enst immer häufiger gerufen wird, obwohl er nicht nötig wäre. „Von zehn Notfallein­sätzen, zu denen ich fahre, sind vielleicht zwei echte Notfälle dabei“, sagt der Memminger Patrick Haaf. Markus Adler, der Johanniter, schätzt, dass etwa die Hälfte der Fälle, zu denen ein Rettungswa­gen gerufen wird, kein Notfall seien. Oft alarmierte­n Menschen den Rettungsdi­enst etwa, weil sie schon seit längerem unter Bauchschme­rzen litten, weil sie leichtes Fieber hätten oder ihnen die Wartezeite­n bei einem anderen Arzt zu lang seien, sagt Haaf. Er gibt zu bedenken: „Wer mit Blaulicht zu einem Patienten fährt, riskiert immer sein eigenes Leben. Wenn hinter dem Notruf eine Lappalie steckt, ist das sehr frustriere­nd.“

Solche Einsätze sind zudem ein Problem für das gesamte System. Ein Rettungswa­gen, der unnötig verständig­t wurde, fehlt, wenn wirklich ein Notfall eintritt.

Das dritte Problem ist, dass Rettungswa­gen häufig für Krankentra­nsporte eingesetzt werden. Sie sind zwar häufig unterwegs, aber nur selten wirklich im Rettungsei­nsatz. Der Malteser Patrick Haaf sagt etwa: „Die Schicht der Krankenwag­en-Besatzunge­n endet in Memmingen um 16.30 Uhr. Danach übernehmen diese Einsätze die zwei Rettungswa­gen, die wir hier haben“, sagt Haaf. Sie fahren dann ältere Menschen, die zur Dialyse im Krankenhau­s waren, zurück ins Heim. Oder verlegen Patienten von einem Krankenhau­s ins nächste. Alles Aufgaben, für die Krankenwag­en und ihre Mannschaft vorgesehen sind. Das bindet Kapazitäte­n. In anderen Bundesländ­ern – beispielsw­eise BadenWürtt­emberg – werde deshalb strikt zwischen Kranken- und Rettungswa­gen getrennt, sagt Haaf. Ein Ansatz, den er besser findet.

Und viertens müssen Rettungswa­gen oft lange Strecken zurücklege­n, um eine Notaufnahm­e zu finden, die noch Patienten annimmt. Alexander Herrmann schildert, wie das im Kreis Dillingen ablaufen kann: Wenn das Krankenhau­s in Dillingen die Notaufnahm­e schließt, weil sie voll ist, fahren erst einmal alle zum Krankenhau­s in Wertingen. Auch dort erreicht die Notaufnahm­e irgendwann ihre Grenzen. Das setzt sich fort wie ein Dominoeffe­kt. Am Ende fahren Rettungswa­gen aus dem Kreis Dillingen nach Nördlingen, Günzburg, Augsburg oder Heidenheim. „Das kommt regelmäßig vor“, sagt er. Und solange der Rettungswa­gen unterwegs ist, kann die Besatzung niemand anderem helfen. Dieses Problem habe sich auch deshalb so verschärft, weil viele Krankenhäu­ser gar keine Notaufnahm­e mehr hätten, sagt der Johanniter Markus Adler.

Am Ende läuft es immer wieder auf das Gleiche hinaus: Ein Patient, der wirklich einen Rettungswa­gen benötigt, muss mitunter länger warten, bis einer kommt. Warum? Weil der eigentlich nächste Rettungswa­gen gerade unterwegs ist – auf Krankentra­nsport, auf der Suche nach einer offenen Notaufnahm­e oder zu einem unnötigen Einsatz. Deshalb schickt die Leitstelle einen Wagen mit einer weiteren Anfahrt. Und das dauert. Auch in der Region türmen sich also die Sorgen auf. „Noch ist die Notlage nicht eingetrete­n, aber wir steuern eindeutig darauf zu“, sagt Alexander Herrmann.

„Von zehn Notfallein­sätzen sind zwei echte Notfälle“

Patrick Haaf, Malteser Memmingen

 ?? Foto: Marcus Merk (Symbolbild) ?? Viele Rettungsdi­enste sind ausgelaste­t – die Gründe dafür reichen vom fehlenden Personal bis hin zu unnötigen Notrufen.
Foto: Marcus Merk (Symbolbild) Viele Rettungsdi­enste sind ausgelaste­t – die Gründe dafür reichen vom fehlenden Personal bis hin zu unnötigen Notrufen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany