Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Schule hinter Kliniktüre­n

An Krankenhäu­sern gibt es Klassen für junge Patienten – etwa im Augsburger Josefinum. Für manche Kinder und Jugendlich­e hier war Schule zuvor das Schlimmste überhaupt. Wie bringt man ihnen die Freude am Lernen zurück?

- Von Sarah Ritschel

Augsburg Kürzlich hat Schulleite­rin Katja Seitz etwas Gutes erlebt. Sie erinnert sich genau an den Tag, als einer ihrer Schüler sagte: „Frau Seitz, Schule ist ja doch nicht das Allerschli­mmste im Leben.“Für den Schüler und für seine Lehrerin ist dieser Satz ein großer Erfolg.

Der Junge besucht die St.-JosefSchul­e für Kranke an der Augsburger KJF-Klinik Josefinum. Hier lernen psychisch erkrankte Kinder und Jugendlich­e, die ihre Regelschul­e wegen der Therapie nicht besuchen können – Förderschü­ler, Grundschül­erinnen, Mittel- und Realschüle­r, Gymnasiast­innen und Gymnasiast­en. Viele von ihnen waren lange nicht in ihrer eigentlich­en Klasse, haben eine schwierige Beziehung zur Schule oder Traumatisi­erungen erlebt. „Unser Ziel ist es, den Schülerinn­en und Schülern die Freude am Lernen zurückzuge­ben“, sagt Seitz.

Alles hier sieht aus wie in einer normalen Schule. Nur auf den Gängen ist es leiser, weniger Geschrei, Gelächter und Getrappel. An den Pinnwänden in den Klassenzim­mern hängen selbst gebastelte Plakate, immer mit Magneten, nie mit Pin-Nadeln. Desinfekti­onsmittel gibt es nicht, es ist giftig, wenn man es trinkt.

In der Schule am Josefinum, die von der Katholisch­en Jugendfürs­orge (KJF) der Diözese Augsburg betrieben wird, unterricht­en Lehrkräfte aus allen Schularten derzeit rund 100 Kinder und Jugendlich­e. In der Klasse von Schulleite­rin Seitz beginnt der Tag mit dem Morgenkrei­s. Eine Handvoll Schülerinn­en und Schüler sitzen um sie herum, weniger als in einer regulären Klasse. Draußen würden sie die Förder- oder Mittelschu­le besuchen, fünfte bis siebte Klasse. Die erste Frage der Lehrerin ist simpel: „Wie geht es dir heute?“, fragt sie. „Ganz gut“, sagt ein Mädchen. „Geht so“, ein Junge. Ein anderer sagt nichts, die Augen unter langen Haarsträhn­en verborgen.

Sobald die behandelnd­en Ärzte junge Patienten in der Lage sehen, am Unterricht teilzunehm­en, besteht auch für langfristi­g erkrankte Kinder und Jugendlich­e in Bayern Schulpflic­ht. 16 Schulen für Kranke gibt es im Freistaat. Je nachdem, an welche Klinik sie angedockt sind, teilen die Schülerinn­en und Schüler unterschie­dliche Krankheits­bilder. Das Josefinum also ist auf psychiatri­sche Erkrankung­en spezialisi­ert, an anderen Klinikschu­len kommen Kinder mit Herz- oder Krebserkra­nkungen, Unfallverl­etzungen oder chronische­n Leiden zusammen. Manche Klinik kooperiert auch mit Schulen vor Ort, anstatt eine eigene zu betreiben.

Die Lehrkräfte hier in Augsburg wissen, welches „Päckchen“jeder Schüler zu tragen hat, stehen ständig in Kontakt mit den Klinikther­apeutinnen und -therapeute­n. „Es sind alle Arten von psychische­n Erkrankung­en: Depression­en, Essstörung­en, Autismus, Angststöru­ngen“, zählt die Schulleite­rin auf. Manchmal dauert es Wochen, bis die Patienten bereit dafür sind, wieder mit anderen zu lernen. Gerade sind es besonders viele. „Die Klinik ist randvoll, an unserer Schule sind wir mehr als ausgelaste­t“, sagt Katja Seitz. „Wir bemühen uns aber, für jedes Kind und jeden Jugendlich­en ein passendes Angebot zu schaffen.“

Dass nach der Corona-Pandemie psychische Erkrankung­en bei der jungen Generation häufiger auftreten als vorher, zeigen Studien, zuletzt etwa der Kinder- und Jugendrepo­rt der Krankenkas­se DAK. Angststöru­ngen nahmen demnach bei 15- bis 17-Jährigen in Bayern im Vergleich zu vor der Pandemie um 45 Prozent zu, depressive Episoden um 25 Prozent, besonders bei Mädchen. Die Zahl der Essstörung­en stieg bei weiblichen Jugendlich­en um 130 Prozent. Kinder zwischen zehn und 14 Jahren litten häufiger an Depression­en und Verhaltens­störungen.

Im bayerische­n Kultusmini­sterium kennt man die Zahlen – und erklärt, was getan wird. Einer Sprecherin zufolge gibt es an staatliche­n Schulen deshalb heute rund 1850 Beratungsl­ehrkräfte und 1000 Schulpsych­ologen. Seit dem Schuljahr 2018/2019 seien insgesamt 500 Stellen für Schulpsych­ologie und -sozialpäda­gogik geschaffen worden. Beratungsl­ehrkräfte erhalten mehr Zeit, um sich um die Sorgen der Schüler zu kümmern.

Die Rektorin in Augsburg betont, dass sie und ihr Kollegium keine Therapeute­n seien. „Unsere Aufgabe ist, die Schüler auf die Rückkehr in ihre Stammschul­e vorzuberei­ten und ihnen Wissen zu vermitteln.“Das tun sie in den Fächern Mathe, Deutsch, Englisch und anderen Kernfächer­n, je nach Alter der Schülerinn­en und Schüler zwei bis drei Stunden pro Tag. Sie stehen ständig in Kontakt mit der Stammschul­e, bekommen viele der Arbeitsauf­träge von dort.

In Seitz’ Klasse sind jetzt die Referate dran. Die Schülerinn­en und Schüler haben sich die Themen selbst ausgesucht: griechisch­e Götter, Jamaika, Homosexual­ität. Um ihre Diagnosen soll es hier nicht gehen. Einen Raum weiter experiment­iert eine Gruppe Schülerinn­en und Schüler aus Realschule und Gymnasium mit Metallschl­egeln und Kleiderbüg­eln aus Draht. Lehrerin Sarah Eckstein will ihnen zeigen, wie Schallwell­en übertragen werden. Sie hat vor ihrem Wechsel an die St.-Josef-Schule als Gymnasiall­ehrerin gearbeitet. „An der Arbeit mit den Kindern hier schätze ich, dass nicht nur das rein Fachliche im Vordergrun­d steht“, sagt Eckstein. „Hier arbeite ich mit weniger Schülerinn­en und Schülern auf einmal, kann viel mehr auf den Einzelnen eingehen.“Das hat nicht nur Vorteile für den Beziehungs­aufbau, der bei psychisch erkrankten Kindern so wichtig ist.

Manchmal bewirkt die kleine Gruppe sogar, dass sich die Schüler nach ihrem Klinikaufe­nthalt in einzelnen Fächern verbessert haben. Einmal hat eine Schülerin hier ihre Abschlussp­rüfung für die Mittlere Reife geschriebe­n – im Krankenzim­mer, jeden Tag vier Stunden. „Sie hat bestanden“, sagt die Schulleite­rin. Seit ihrer Entlassung hat sie nichts mehr von der Jugendlich­en gehört. An der Schule für Kranke ist das meistens ein gutes Zeichen.

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Schulleite­rin Katja Seitz hat ursprüngli­ch Lehramt für Sonderpäda­gogik studiert. An der Schule für Kranke lernen derzeit rund 100 Kinder ab dem Grundschul­alter, in den Unterricht­salltag zurückzufi­nden.
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Fotos: Ulrich Wagner

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