Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Eine Farm, die Hoffnung sät
Der Schweizer Fotograf Hannes Schmid lebte mit den Armen von Phnom Penh auf einer Müllhalde, weil er helfen wollte. Daraus entstand ein ganzheitliches Hilfsprojekt mit Bauernhof und Hotel, das Familien und Kindern ein neues Leben ermöglicht. Ein Ortsbesuc
Wie eine Geschichte beginnen, die von viel Leid, aber auch von Hoffnung und Perspektiven erzählt? Mit der Armut vieler Kinder in Kambodscha? Ihrer Chancenlosigkeit in diesem unterentwickelten Land? Wo Mädchen kaum eine andere Möglichkeit haben, als unter fragwürdigen Bedingungen in einer Textilfirma Billigklamotten zu nähen? Oder doch mit der unglaublichen Kraft mancher Menschen, die so viel verändern kann? Mit Mariya Un etwa, die sich aus dem Slum von Phnom Penh herausgekämpft, bei Spitzenkoch Andreas Caminada gekocht hat und nun daran arbeitet, Kambodschas erste Sterne-Köchin zu werden? Eine Lebensgeschichte wie ein Weihnachtswunder. Oder zuerst von Hannes Schmid erzählen? Diesem rastlosen Lebensverrückten, der nicht dazu neigt, sich selbst zu schonen. Der 76-jährige Schweizer Starfotograf schuf die Werbebilder des Marlboro-Man. Er fotografierte die Rolling Stones, Freddie Mercury, aber auch Kannibalen in Indonesien. Er versenkte für seine Aufnahmen sündteure Formel-1-Boliden in Pools und trieb Models zum Everest-Basecamp hinauf, um dort Titelbilder für die Vogue zu schießen. Nun aber steckt er seine unglaubliche Energie in ein ganzheitliches Hilfsprojekt.
Hier bei Smiling Gecko, auf dem platten Land 60 Kilometer nordwestlich von Phnom Penh, laufen all die Lebensfäden, die von Leid, Armut, Kraft, Chancen und Hoffnung erzählen, zusammen. Aber ein entscheidender fehlt noch. Das Schicksal von Khat Waew, dem Straßenmädchen, ohne das es weder die Schule für 400 Kinder, den Kindergarten, die Landwirtschaft, die Ausbildungsstätten noch das Luxushotel von Smiling Gecko geben würde. Mit ihrer traurigen Geschichte hat alles begonnen, was jetzt so vielen Kindern und Familien eine Zukunft ermöglicht.
Also Khat Waew. Die junge Frau, heute Anwältin in Phnom Penh, hat eine Geschichte, die nur schwer auszuhalten ist. Der eigene Vater verbrannte dem Mädchen das Gesicht und verkaufte es an ein Bettlersyndikat in Thailand. So sollte sie höhere Beträge erzielen. In eine Decke gehüllt lag Khat Waew auf einer Brücke, als Hannes Schmid ihr ein paar Münzen in den Korb warf. Sie hörte das Klimpern, zog sich die Decke vom Gesicht und der Fotokünstler, der in seinem Leben schon viel gesehen hatte, konnte den Anblick kaum ertragen. Khat Waews entstelltes Gesicht zeigt er auch, wenn er von den Anfängen von Smiling Gecko erzählt. Denn solche Grausamkeiten können sich seine Zuhörer meist nicht vorstellen. Er kaufte Khat Waew, suchte für sie einen Platz in einem Waisenhaus in Phnom Penh – und hörte von der Leiterin die nächsten Elendsgeschichten. Vom Leben der Familien auf der Müllhalde von Phnom Penh. Der Fotograf ging hin, sah, wie Eltern in giftigem Unrat etwas zu essen für ihre Kinder suchten – und blieb. „Ich habe meine Frau angerufen, dass ich so schnell nicht zurückkomme“, erzählt er. Ein Jahr lang wohnte er auf der Müllhalde, fotografierte, besorgte Essen für die Menschen, erkrankte an Typhus und erkannte, dass er so nichts an den Zuständen, am ewigen Kreislauf von Armut, ändern würde. So entstand seine Idee, eine Farm mit Schule zu bauen.
Das Tor öffnet sich. Nach einer langen Fahrt durch quirlige Vororte, schließlich durch immer einsameres Land mit ein paar kleinen Gehöften, ist die Farm von Smiling Gecko irgendwo im Nirgendwo aufgetaucht. Eine kleine geordnete ExilSchweiz mitten Kambodscha. Das Zitronengras in Reih und Glied am Wegesrand gepflanzt, vor den Farmhäusern blühen Bougainvilleen flammend rosa, drinnen strenge Mülltrennung. Und da steht unter dem Vordach der Rezeption auch schon Hannes Schmid in beiger Bermudahose und schwarzem T-Shirt. Statt Rockstars oder Supermodels zu fotografieren, hat er sich nun in die Schweinezucht und die besonderen Bedürfnisse von Vanille eingearbeitet. „Es war eine wahnsinnige Idee, die Menschen von der Müllhalde hierherzubringen, dass sie wieder ein Leben als Bauern führen könnten,“sagt er selbst. Mit manchen Plänen sei er „krachend gescheitert“, aufgegeben habe er aber nie. Das ist wohl auch nicht seine Art.
Geradezu verrückt, was hier in sechs Jahren entstanden ist. Ein Luxushotel mit Lodges für maximal 80 Gäste, Pool, Spa, Yoga-Sessions am Morgen, alles da. An den Wochenenden sei das Hotel oft von Geschäftsleuten aus Phnom Penh gebucht, die hier Ruhe suchten oder wegen der Küche von Mariya Un kämen. Aber auch immer mehr Reiseveranstalter nehmen das außergewöhnliche Hilfsprojekt in ihr Programm auf. Urlaub auf dem etwas anderen kambodschanischen Bauernhof. Hier werden Perspektiven gesät. Unter anderem mit einer Hühner- und Fischfarm, einer Schreinerei, in der die Möbel für Farm und Hotel hergestellt werden, Gewächshäusern für Gemüse und Kräuter – derzeit wird mit dem Anbau von Spargel experimentiert, der sich gut (und teuer) an Hotels in Phnom Penh verkaufen lasse. Genauso wie Wurst und Schinken aus der eigenen Produktion. Und so ist es ein fast unwirklicher Moment, als bei schwülen 30 Grad eine Brotzeitplatte serviert wird, die jeder Skihütte Ehre machen würde.
Die meisten der 300 Angestellten und Auszubildenden kommen aus der näheren Umgebung von Smiling Gecko. Sie sollen hier Berufe lernen und später wiederum ihr Wissen an kambodschanische Auszubildende weitergeben. Das ist das Prinzip. Anfangs, so sagt Schmid, habe er das Projekt mit dem Verkauf seiner Bilder finanziert. Dann machte sich der geschickte Netzwerker und Geschäftsmann erfolgreich auf Sponsorensuche. Die deutsche Der-Touristik Foundation des gleichnamigen Reiseanbieters etwa finanziert zehn duale Ausbildungsplätze in Küche und Service. Wirtschaftlich sollen Farm und Hotel bis 2025 auf eigenen Beinen stehen und auch einen Teil der Schule mitfinanzieren. Ohne Covid-19 wäre dies bereits 2020 der Fall gewesen, sagt Hannes Schmid. Die Schule allerdings werde sich aber auch in Zukunft vor allem aus Zuwendungen finanzieren.
Am nächsten Morgen um 6.30 Uhr treffen die ersten Kinder an der Schule ein, heute alle in hellbraunen T-Shirts und dunklen Hosen. Gleich werden sie die kambodschanische Fahne auf dem Schulgelände hissen und die Nationalhymne singen. Alltägliches Morgenritual. Seit fünf Jahren gibt es die Schule bei Smiling Gecko. Die 400 Mädchen und Jungen kommen nicht nur zum Lernen. Zähneputzen, Duschen, Fingernägel schneiden, Haarekämmen gehören genauso zum Schulalltag wie Englisch und Mathematik. „Dafür brauchen wir hier viel Zeit“, erzählt Hannes Schmid. Und es gibt für alle Frühstück. Heute ein Stück Melone, Lehrer Sam streut auf jeden Teller Sonnenblumenkerne, dazu ein Ei, Reis, Vollkornbrot. Die Kinder dürfen sich so oft nehmen, wie sie möchten, dürfen sich satt essen, bevor sie in die Klassenzimmer abmarschieren.
Groß sei die Bildungsarmut in Kambodscha, sagt Hannes Schmid. Hier auf dem Land bekämen das die Lehrer besonders zu spüren. Die Folgen der vierjährigen Schreckensherrschaft von Pol Pot in den 1980er Jahren seien noch immer zu spüren. 1,7 Millionen Menschen wurden getötet – vor allem Lehrer, Wissenschaftler und Intellektuelle. Das Land wurde in bitterste Armut getrieben, Wissen, Kultur und Traditionen nahezu ausradiert. Geht es nach Hannes Schmid, sollen die Schulkinder bei Smiling Gecko, „selbstbestimmt und selbstbewusst“aufwachsen, bessere Perspektiven für ihr Leben entwickeln, als in der nächsten Textilfabrik zu arbeiten. Der Fotograf erzählt und erzählt von den Lebensbedingungen in Kambodscha und auch davon, dass es durchaus üblich sei, 13-jährige Mädchen zu verheiraten. Einige hätten sich nun geweigert, wollen lieber die Schule besuchen. Darum plant der Künstler weiter. Auch eine weiterführende Schule soll es auf dem Campus geben. Den 76-Jährigen freut es, wenn „meine Kinder“Nein sagen, für die Lehrer und Lehrerinnen bedeutet das viel Überzeugungsarbeit bei den Eltern. Deswegen sei es „eine Katastrophe“gewesen, als die Schule wegen der Pandemie wochenlang von der Armee geschlossen wurde. „Die Chinesen sperrten die Textilfirmen zu, und die Familien hatten von heute auf morgen kein Einkommen mehr.“Der Schulbesuch samt Verpflegung kostet 25 Dollar im Jahr, eine Summe, die erst mal aufgebracht werden muss. Aber Schulbesuch müsse „etwas wert sein“, ist Hannes Schmid überzeugt.
Nun aber zu Mariya. Auch sie einst zwangsverheiratet. Auch sie nähte in einer Textilfirma, lebte im Slum von Phnom Penh. Hannes Schmid entdeckte sie auf der Straße und stellte sie in der Küche an. Ihr Talent fiel rasch auf. „Ich koche intuitiv“, sagt sie und lacht ihr ansteckendes Lachen, „manchmal weiß ich selbst nicht, wie ich es mache.“Sie lässt Soßen 72 Stunden lang reduzieren, variiert den klassischen kambodschanischen Amok mit Blüten und Kräutern, kombiniert Vanilleeis mit Kampot-Pfeffer und Karamell – und oft kann sie selbst nicht glauben, wie alles gekommen ist, mit welcher Willensstärke sie sich aus dem Slum herausgearbeitet hat. „Meine Familie hat mich nie nach meinen Träumen gefragt“, erzählt Mariya. Dafür war in ihrer Vergangenheit kein Platz. Ihren größten Traum will sie sich nun selbst erfüllen. „Ja“, sagt sie nach einer kleinen Atempause, „ich will Kambodschas erste Sterneköchin werden“. Laut Andreas Caminada hat die 33-Jährige dafür auch gute Chancen. Gerade entsteht auf dem Gelände des Smiling Gecko Hotels ihr eigenes Fine-Dining-Restaurant. Zwölf Mitarbeiter hat Mariya in der Küche. Kürzlich sei noch ein Mädchen dazu gekommen. Es wollte nicht mehr in einer Textilfabrik arbeiten. Mariya ließ die 16-Jährige zur Probe einen Pomelo-Salat machen – und stellte sie ein. Vielleicht weil sie sich an ihren eigenen Lebensweg erinnert fühlte. Vielleicht auch, weil sie einem anderen Mädchen einfach einen Traum ermöglichen wollte.
„Es war eine Katastrophe für die Kinder, als die Schule wegen Corona zugesperrt wurde“