Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Eugen Ruge: Metropol (121)
Moskau, 1930er Jahre: Ein deutsches Agenten-Ehepaar in Sowjet-Diensten kehrt in die Stadt zurück, um sich für den Kontakt mit einem angeblichen Hochverräter zu rechtfertigen. Doch niemand zeigt Interesse an ihnen, den überzeugten Kommunisten. Im Hotel Metropol, wo sie Unterkunft finden, wohnen auch andere Agenten. Die aber verschwinden nach und nach…
© 2019 Rowohlt Verlag, Hamburg
Mit ihm zusammen fuhr ich über die Silvestertage 2014/15 nach Moskau und leistete mir – das konnte ich nach dem Romanerfolg – ein Zimmer im Hotel Metropol.
Allerdings nicht irgendein Zimmer. Den Akten hatte ich nämlich entnommen, dass meine Großmutter in Zimmer 479 gewohnt hatte, und dieses Detail beflügelte mich: die Möglichkeit, wenn nicht die Zeitkoordinaten, so doch wenigstens die Raumkoordinaten meiner Großmutter zu kreuzen. Es war, nach all dem Papierkram und all den Büchern, die ich gelesen hatte, etwas Wirkliches, Konkretes. Zwar waren die Zimmer inzwischen gründlich umnummeriert worden, aber das Hotelpersonal versprach mir vorab per E-Mail, dass man das richtige Zimmer ausfindig machen werde.
So verbrachte ich Silvester 2015 – im Zimmer von Feuchtwanger. Man hatte sich um eine Nummer vertan, wie ich einige Monate später von der eigens zur Erforschung der Geschichte des Hauses angestellten Historikerin erfuhr.
Also reise ich 2017 zum dritten Mal nach Moskau. Dieses Mal bin ich im richtigen Zimmer, die Historikerin – Jekaterina Jegorowa, auch ihr bin ich zu Dank verpflichtet – versichert es mir persönlich. Inzwischen ist das Hotel mehrmals renoviert worden, aber das Zimmer hat noch dieselben Maße; die Betten stehen vermutlich am selben Platz (und können auch kaum anders gestanden haben). Die Möbel sind zwar zum größten Teil neu, haben aber noch immer Gründerzeit-Charakter, gedämpfte Brauntöne dominieren. Die Stuckrosette ist original. Die goldenen Sterne, da kann ich sicher sein, hat auch meine Großmutter schon über sich gehabt – vor achtzig Jahren.
Ist es möglich, dass sich hier noch irgendwo ein Molekül aus ihrer Atemluft herumtreibt? Fühle ich mich anders als in dem falschen Zimmer?
Morgens um 3:38 Uhr wache ich auf. Ich schaue auf die Uhr. Im Erwachen habe ich lauter grelle, dringliche Nachrichten (auf Russisch) im Kopf, die aber zerrinnen, als ich sie in halbwachem Zustand zu fassen versuche. Irgendetwas befand sich einmal hier; irgendetwas soll hierhergebracht werden… Es sind brandneue, aktuelle Nachrichten. Allerdings aus dem Jahr 1937. Im Russischen Staatsarchiv für soziopolitische Geschichte habe ich Gelegenheit, auch die Akten von Hilde Tal und Erwin Ruge einzusehen, die Wladislaw Hedeler vorher für mich bestellt hat. Ich mache mir Notizen zu einigen Kursanten und Mitarbeitern. Es gelingt mir sogar, ins Innere des ehemaligen Kominterngebäudes vorzudringen, das heute zur Hälfte von der Verwaltung der Lenin-Bibliothek, zur Hälfte vom russischen Geheimdienst FSB belegt wird. Zwei reizende Damen führen mich durch die nicht geheime Hälfte des Gebäudes: eine ältere, die für den ausländischen Gast einen Vortrag über die Lenin-Bibliothek vorbereitet hat, und eine jüngere, die schweigt. Zum Glück befindet sich das ehemalige Arbeitszimmer von Abramow-Mirow in der diesseitigen Hälfte, samt dem Vorzimmer, in dem Hilde Tal gesessen haben muss.
Zu allem Überfluss organisiert das Goethe-Institut für mich noch eine historische Stadtführung. Die Historikerin bringt Anzeigen und Fotos aus der Mitte der Dreißiger mit, die ich eifrig abfotografiere. Und schließlich macht sich Oleg Nikiforow, mein russischer Verleger, mit mir auf, den Punkt Zwei zu suchen.
Den richtigen Punkt Zwei. Denn schon einmal, bei meiner ersten Reise, glaubte ich, ihn gefunden zu haben. Und das kam so: Von meinem Vater, der das Gelände selbstverständlich nie betreten hat, gab es zwei wichtige Informationen. Erstens, dass der Punkt sich nördlich von Moskau bei Podlipki befand. Und zweitens, dass dort nach der Liquidierung der OMS ein Spezialgefängnis eingerichtet wurde, eine sogenannte Scharaschka, wo der berühmte sowjetische Flugzeugkonstrukteur Andrej Nikolajewitsch Tupolew den kriegswichtigen Bomber Tupolew Tu-2 entwarf. Da sich bei Podlipki auch das russische Zentrum der Raumfahrtindustrie, die sogenannte Koroljow-Stadt, befindet, war ich jahrelang ziemlich sicher, dass an dem Ort, an dem Charlotte drei Jahre verbracht hatte, später jene Rakete entwickelt wurde, mit der Gagarin als erster Mensch in den Weltraum flog.
Schöne Geschichte, aber wahrscheinlich falsch.
Zwar befand sich die erste, die ursprüngliche Tupolew’sche Scharaschka (nicht die bekanntere zweite) tatsächlich auf dem Gebiet der heutigen Koroljow-Stadt, aber sie ging, so behauptet zumindest das russische Wikipedia, aus einer „Arbeitskolonie“für obdachlose Kinder hervor.
Also begann ich, Akten und Dokumente zu studieren, recherchierte im Internet. Ich erspare dem Leser verwirrende Einzelheiten, denn je tiefer ich in die Sache eindrang, desto verwirrender wurde es.
Angaben stimmten nicht überein, Zeiten und Entfernungen waren nicht unter einen Hut zu bringen. Sogar Wladislaw Hedeler, der gute Geist meiner Nachforschungen, war ratlos.
Er schrieb Historiker-Kollegen von Moskau bis Washington an, es nützte nichts. Der geographische Ort von Punkt Zwei blieb unscharf.