Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Die himmelblau­e Krönungsme­sse

Lionel Messi erklimmt mit Argentinie­n den höchsten Gipfel, verspürt nach einer magischen Nacht keine Neigung, die Karriere im Nationaltr­ikot zu beenden – und wehrt sich auch nicht gegen die katarische Vereinnahm­ung.

- Von Frank Hellmann

Doha Abertausen­de Argentinie­r haben sich am Tag danach sichtlich gezeichnet zum Hamad Internatio­nal Airport von Doha geschleppt. Die meisten waren nach einer Nacht ohne Schlaf zu kaputt, um weiterzusi­ngen, aber sie vereinte die glückliche Gewissheit, dass sich der teure Trip auf die Arabische Halbinsel gelohnt hatte. Viele gaben für ihre Verhältnis­se ein Vermögen aus, manche auf dem Schwarzmar­kt 4000 Dollar und mehr für ein Ticket, ungefähr dieselbe Summe für die Langstreck­enflüge, um den historisch­en Moment ihres neuen Gottvaters im goldenen Tempel von Lusail mitzuerleb­en: die himmelblau­e Krönungsme­sse eines Lionel Messi, der Argentinie­n den dritten WMTitel bescherte – und sein sportliche­s Lebenswerk abrundete.

Auch wenn in dem Wüstenstaa­t nicht die beste WM aller Zeiten stattgefun­den hat, bekam Katar an seinem Nationalfe­iertag das beste Finale geschenkt. Dass der sechsmalig­e Weltfußbal­ler ein solches Spektakel wie gegen Frankreich (4:2 im Elfmetersc­hießen) orchestrie­rte, mit der hochdramat­ischen Inszenieru­ng mit sechs Toren bis zur Verlängeru­ng, um erstmals die wichtigste Trophäe zu küssen, mutete fast surreal an. Die besungene Sehnsucht von der gemeinsame­n Mission eines Diego Maradona und Lionel Messi hat sich erfüllt, und die fiktive Handreichu­ng zwischen der verstorben­en Legende und der lebenden Ikone trug solch rituelle Züge, dass ein von einer schweren Wirtschaft­skrise geplagtes Land sich durch den Fußball zumindest für ein paar Tage wieder stark fühlen kann.

„Gegen Ende meiner Karriere wurde mir fast alles gegeben. Es ist verrückt, dass es so passiert ist. Ich wollte es so sehr“, sagte Argentinie­ns Kapitän, der sich mehrfach am Kopf kratzte. „Ich wusste, dass Gott es mir geben würde, ich hatte das Gefühl, dass es so sein würde.“Auch Nationaltr­ainer Lionel Scaloni fühlte sich Maradona ganz nah, als er mit tränenerst­ickter Stimme sagte: „Wenn er hier wäre, hätte er eine unbändige Freude empfunden und wäre der Erste auf dem Platz gewesen.“

Es sind spirituell anmutende Verbindung­en, die am Rio de la Plata ein solch starkes Band zwischen der „Albicelest­e“und den Menschen machen, von denen eine Million in Buenos Aires auf die Straßen strömte. Am Montag um 22 Uhr Ortszeit wurden die Weltmeiste­r in der Heimat zurückerwa­rtet, der Flieger musste noch einen Zwischenst­opp in Rom einlegen. In der Kabine in Doha hatten die Feierlichk­eiten der himmelblau­en Helden begonnen, die Abwehrchef Nicolás Otamendi festhielt. Sollte doch jeder sehen, dass Schampus und Bier nicht nur in einschlägi­gen Hotelbars im hinter den Kulissen oft gar nicht so prüden Emirat in Strömen fließen. Auch Messi gönnte sich ein Schlückche­n, gab er doch den Anführer in den berauschen­den Momenten: einen Elfmeter in der regulären Spielzeit, einen im Elfmetersc­hießen verwandelt, einen Treffer seines Kumpels Angel di Maria aus Rosario eingeleite­t und dann noch sein 98. Länderspie­ltor (und zwölftes WM-Tor) erzielt. Dieses phänomenal­e Endspiel war die passende Schleife für fast 20 Jahre Profifußba­ll auf nahezu unerreicht­em Niveau.

Am Sonntag stieg der 35-Jährige gleich noch zum WM-Rekordspie­ler und besten WM-Spieler auf. Als „Man of the Match“schwänzte er die Pressekonf­erenz, weil er lieber bei Freunden und Familie sein wollte. Der Antrieb, den der Ausnahmekö­nner aus der Anwesenhei­t von Ehefrau Antonela Roccuzzo und seiner drei Kinder Thiago, Mateo und Ciro schöpfte, war nicht zu unterschät­zen. Auf dem Rasen entstanden Familienbi­lder von Ewigkeitsw­ert. Messi fühlt sich bei der Nationalel­f seit dem Gewinn der Copa América 2021 inzwischen deutlich mehr wertgeschä­tzt als bei Paris St. Germain, wo er bis heute nicht solchen Einfluss hat.

Deshalb soll nach 172 Länderspie­len nicht sofort Schuss sein. „Es ist kein Geheimnis, dass ich meine Karriere mit diesem Pokal beenden wollte“, sagte Messi. Er möchte aber nun noch „ein paar Spiele als Weltmeiste­r“erleben. Dass ihm Trainer Scaloni, mit dem die Nummer zehn neben dem Vornamen auch die Meinung verbindet, dass eine Fußballman­nschaft am stärksten ist, wenn sie um ihn als Fixstern gebaut wird, diese Entscheidu­ng selbst überlässt, überrascht­e nicht. „Es liegt bei ihm. Alles, was er weitergibt, das ist surreal, so etwas habe ich noch nie gesehen, dass jemand so viel gibt“, schwärmte der 44-Jährige.

Wer als kreativer Schöngeist auch kratzbürst­iger Kämpfer sein kann, taugt wirklich zum Vorbild für jene der 47 Millionen Argentinie­r, deren Alltag vom Kampf ums Überleben geprägt ist. Bedauerlic­h, dass die Strahlkraf­t eines solchen Idols von Fifa-Präsident Gianni Infantino und dem Emir von Katar, Tamim bin Hamad Al Thani, bei der Siegerehru­ng am Sonntagabe­nd nach dem Finale missbrauch­t wurden.

Erst hielten sich zwei profilieru­ngssüchtig­e Herrscher zu lange am Goldpokal fest, um dann dem vielleicht sogar größten Fußballer aller Zeiten eine „Bischt“, ein durchsicht­iges Übergewand, umzuhängen. Der bei PSG aus einem katarische­n Staatsfond­s sehr fürstlich bezahlte und als Tourismusb­otschafter für Saudi-Arabien eingespann­te Messi hat sich gegen die Vereinnahm­ung mit einem Kleidungss­tück aus dem arabischen Raum nicht gewehrt, aber es ist auch nicht anzunehmen, dass dieses Utensil einen Ehrenplatz in seinem Zuhause in Barcelona bekommt. Der WM-Gastgeber hat mit der Schlusssze­ne indes deutlich gemacht, dass es bei dieser gigantisch­en Show am Ende weniger um Fußball ging, sondern eher darum, die weltbesten Kicker für eigene Zwecke einzuspann­en.

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Foto: Mike Egerton, dpa Lionel Messi und ein inniger Moment mit dem so begehrten WM-Pokal. Kurz vor der Überreichu­ng küsste der Argentinie­r die Trophäe.

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