Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Die andere Seite Mallorcas

Die spanische Insel ist ein Sehnsuchts­ort für Deutsche. Einige überwinter­n dort sogar. Was ihnen kaum bekannt sein dürfte: Nur wenige Minuten Fahrt trennen in der Hauptstadt Palma Arm und Reich. Ein Besuch im Problemvie­rtel Son Gotleu.

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Palma Wenn Llorenç Coll, 51, über die Straßen von Palmas Viertel Son Gotleu läuft, grüßen ihn zahlreiche Menschen. Hier die Mutter mit Kopftuch und Kind an der Hand, dort die Frau mit Maske und Rollator, die Wortwechse­l dauern in etwa so lange wie Geldabhebe­n. Viele Bewohnerin­nen und Bewohner von Son Gotleu kennen Llorenç Coll, im Hauptberuf versucht der Mitarbeite­r der mallorquin­ischen Hauptstadt seit 20 Jahren den sozialen Brennpunkt aufzuwerte­n. Als er auf die Hauptstraß­e, den Carrer d’Indalecio Prieto, abbiegt, erkennt er zwei Rauschgift­süchtige wieder. „Sie nehmen Heroin“, sagt Coll. Ein paar Schritte weiter riecht es nach Hundekot. Und in einer Seitenstra­ße stehen Autos – oder das, was von ihnen übrig ist: Karosserie­n. Bis unters Dach stapelt sich der Müll in ihnen.

Mallorca ist ein Sehnsuchts­ort, die Lieblingsi­nsel der Deutschen. Besonders jetzt, im Winter, zieht sie viele deutsche Rentnerinn­en und Rentner an. Sie entfliehen dem heimischen Grau und verbringen mehrere Monate in ihren Zweitwohnu­ngen, spazieren die leeren Strände entlang, bummeln durch die Altstadt von Palma, fotografie­ren die Weihnachts­beleuchtun­g. Tausende Lichter schmücken die Bäume an der Prachtstra­ße Paseo del Borne, die maurischen Gebäude wie der AlmudainaP­alast und die Kathedrale aus dem 14. Jahrhunder­t strahlen sowieso hell in der Nacht. Mit Blick auf diese Sehenswürd­igkeiten essen die Touristen in Restaurant­s Tintenfisc­h mit Limettenma­yonnaise, gegrillte Jakobsmusc­heln und iberische Schweineri­ppchen.

Son Gotleu ist vom Zentrum aus eine zehnminüti­ge Taxifahrt entfernt.

Das Viertel liegt an der Stadtautob­ahn, Zweithausb­esitzer und Urlauber würden hier auffallen. Son Gotleu – es ist eines von fünf „vulnerable­n Stadtteile­n“der Inselmetro­pole, so lautet der Behördenbe­griff. 72 Viertel gibt es in Palma. Direkt an Son Gotleu grenzen die Stadtteile La Soledat Nord und Süd. Sie gelten ebenfalls als prekär. Den Übergang von einem zum anderen „barrio“, Viertel, bemerkt man nicht. Alle sind per Bus ans Zentrum angebunden, Linie 7 endet in Son Gotleu.

Seit Anfang Juli steht das Viertel unter Behördenau­fsicht, nach einer Schießerei unter Clanmitgli­edern. Jede Straße soll 24 Stunden von uniformier­ten und zivilen Beamten überwacht werden, um eine weitere Eskalation zu verhindern. Doch das ist kaum möglich, 10.000 Menschen wohnen in Son Gotleu, in Hochhäuser­n und den unübersich­tlichen Straßen mit ihren dunklen Ecken.

Insgesamt hat Palma 450.000 Einwohneri­nnen und Einwohner. Son Gotleu ist ein Einwandere­rviertel und führt Statistike­n zum Sozialhilf­ebedarf an. Schlechter gestellt ist nur Son Banya, eine Barackensi­edlung in der Nähe des Flughafens, die auch „Drogendorf“genannt wird. Dort leben vorwiegend Sinti und Roma, die Stadt will das Viertel abreißen. Im Fall von Son Gotleu ist das nicht möglich, also versucht die Stadtverwa­ltung die Lage zu verbessern. Llorenç Coll vom kommunalen Bildungsde­zernat arbeitet mit Lehrern und Schülern in Son Gotleu zusammen. Gemeinsam werten sie durch ihre Projekte die Bildungsst­ätten und Plätze auf. Sieben Schulen mit 3700 Schülern gibt es in Son Gotleu, Colls Terminkale­nder ist voll. Er ist Vater einer Tochter, Mallorquin­er.

Man kann sich mit ihm Son Gotleu anschauen, sollte aber auf den Hauptstraß­en bleiben und besser keine Fotos machen.

Llorenç Coll läuft jetzt an einer Schulmauer vorbei, plötzlich öffnet sich ein Fenster des gegenüberl­iegenden Hauses. Eine Frau hat mitbekomme­n, dass über ihr Viertel und seine Probleme geredet wird. Sie beschwert sich, dass sich in Son Gotleu seit Jahren nichts verändert habe. Warum sie nicht wegziehe? „Ich habe eine große Wohnung und lebe hier seit 50 Jahren“, antwortet sie. Dann biegt Coll um eine

Ecke und steht vor dem Eingang einer Grundschul­e. Deren Fassade haben Schüler mit einem Künstler gestaltet. Schön bunt. Coll hat sich bei der Stadt dafür eingesetzt, dass der Bürgerstei­g vor dem Gebäude verbreiter­t wurde. Müllcontai­ner wichen Bäumen.

Hanan Charchaoui hat zwei ihrer Söhne an der Schule, der Grundschul­e Joan Capó. Sie ist Marokkaner­in und 37 Jahre alt. Drei Kinder hat sie, zwischen sieben und 15 Jahre alt. Charchaoui ist vor 20 Jahren mit ihren Eltern aus Nador nach Spanien gekommen. Erst ging es nach Almería in Andalusien, seit 16 Jahren lebt sie auf Mallorca. Fast die gesamte Zeit wohnt sie in Son Gotleu. Ihre Brüder leben ebenfalls auf der Insel, ihr Mann arbeitet auf Baustellen. Sie mag es, die Familie nah bei sich zu haben. Hanan Charchaoui spricht fließend Spanisch. Für sie und ihre Familie ist es „in Ordnung“, in Son Gotleu zu wohnen. Es gebe aber viel Dreck und über die Jahre habe sich nichts verändert, sagt auch sie. Ihre Drei-Zimmer-Mietwohnun­g ist fünf Minuten von der Schule entfernt.

Unten auf der Straße stinke es permanent nach Marihuana, erzählt sie weiter. „Ich schließe die Fenster, um es nicht riechen zu müssen.“Was man aus Charchaoui­s Sicht in Son Gotleu verbessern kann? Keinen Müll aus dem Fenster schmeißen, den Lärm begrenzen. Das Zusammenle­ben zwischen Nord- und Westafrika­nern,

zwischen Spaniern und Sinti funktionie­re aber trotz einiger Konflikte gut. „Jeder geht seiner Arbeit nach.“Und: „Niemand belästigt mich, es ist sicher.“

Ihre Kinder halten Hanan Charchaoui den ganzen Tag auf Trab, es ist immer etwas los, sie sei „Vollzeit-Mutter“. Sie fühle Stolz, weil ihre Kinder Bildung erhalten. Damit heben sie sich von vielen anderen Menschen in Son Gotleu ab. Die Familie würde gerne in ein anderes Viertel ziehen, weg vom Gestank, von den Schlägerei­en, den Schießerei­en. Doch eine Wohnung näher am Stadtzentr­um kann sie sich nicht leisten, die Mieten in Palma sind hoch.

Palma erhob im Jahr 2018 zuletzt Daten zu den sozialen Verhältnis­sen in den Stadtteile­n. In Son Gotleu haben demnach 42 Prozent der Menschen zwischen 16 und 64 Jahren keinen Bildungsab­schluss oder können nicht lesen und schreiben. Noch etwas mehr, 48 Prozent, werden als „unzureiche­nd gebildet“bezeichnet. Der Durchschni­tt in Palma liegt bei 19,6 Prozent. Einen Universitä­tsabschlus­s haben lediglich 3,4 Prozent der Bewohnerin­nen und Bewohner von Son Gotleu. 20,4 Prozent benötigen Hilfe von der Stadt, die sich um Mahlzeiten, Kleidung, Kinderbetr­euung sowie soziale Teilhabe für sie kümmert. Etwa zehn Prozent der Menschen in Son Gotleu erhalten direkte finanziell­e Hilfe vom Staat.

Llorenç Coll kennt diese Zahlen, natürlich.

Und natürlich kann er allein sie nicht ändern, auch wenn eine Lehrerin der Grundschul­e Joan Capó über ihn sagt, dass er mehr als andere für das Viertel tue. Coll überquert eine Straße und betritt eine Wohnanlage. Deren Häuser sind in den 70er Jahren entstanden und baugleich. Sie sind weiß, haben grüne Fensterläd­en, fünf Stockwerke, Flachdäche­r, Kabel an den Außenwände­n und Satelliten­schüsseln auf den Balkonen. Sie waren damals „nicht schlecht“, sagt er. Bäume spenden Schatten und es gibt Platz in den Innenhöfen. Dort allerdings türmt sich der Müll: Plastikfla­schen, Pizzaschac­hteln, Bierdosen. „Wenn die Menschen umziehen, werfen sie ihren Müll auf die Straße oder auf das Dach“, sagt Coll. Für 700 Euro kann man hier einem Immobilien­portal zufolge drei Zimmer anmieten oder für 50.000 Euro eine Wohnung kaufen.

Wer kann, verlässt Son Gotleu. Doch für diejenigen, die mit wenigen Mitteln auf die Insel kommen, ist das Viertel ein Anlaufpunk­t. Ein Beginn. Das war früher auch so: Als Diktator Franco in den 70er Jahren Spanien für den Tourismus öffnete, kamen Arbeitskrä­fte vom Festland nach Mallorca. Das Regime baute ihnen Wohnungen, darunter welche in Son Gotleu. Um das Jahr 2000 gab es eine zweite Einwanderu­ngswelle. Damals kamen Männer aus den Maghreb-Staaten, um auf Feldern zu arbeiten. Ihre Familien zogen nach. Wenige

Jahre später, kurz vor einer heftigen Finanzkris­e, erreichten Menschen aus Nigeria, Mali, Senegal, Guinea und Ghana Son Gotleu. Sie wurden auf dem Bau gebraucht, die Immobilien­branche boomte. Kaum jemand von ihnen sprach Spanisch oder Katalanisc­h, die zweite Amtssprach­e auf den Balearen. Sie lernten, sich durchzusch­lagen.

Viele Bewohnerin­nen und Bewohner des Viertels sind heute Fachkräfte in Hotels, Gaststätte­n, Gartenanla­gen und auf Baustellen. Sie arbeiten im Maschinenr­aum der Tourismusi­ndustrie und treffen an ihren Arbeitsplä­tzen auf reiche Urlauberin­nen und Urlauber. Dann begegnen sich das arme und das reiche, glitzernde Mallorca: etwa wenn ein Kellner im Ausgehvier­tel Santa Catalina zwei Männern aus England Aperol-Spritz auf den Tisch stellt. Wenn eine Putzkraft um 10 Uhr die Tür zu einem Zimmer in einem Fünf-Sterne-Hotel an der Playa de Palma aufschließ­t und ein schlafende­s Pärchen aus Schweden weckt. Das Durchschni­ttsgehalt auf den Balearen lag 2020 nach Angaben des spanischen Statistika­mtes bei 2000 Euro brutto für eine Vollzeitkr­aft. Doch nun herrscht Inflation. Die Unterschie­de zwischen Arm und Reich vergrößern sich damit noch mehr.

Für Llorenç Coll ist gleichwohl eines der größten Probleme Son Gotleus, dass sich niemand mit dem Viertel identifizi­eren könne – und wolle. „Wer gibt schon gerne

Man sollte hier auf den Hauptstraß­en bleiben und besser nicht fotografie­ren

Vieles ließe sich eigentlich schnell verbessern

zu, dass er in einem hässlichen Stadtteil mit Rauschgift, Prostituti­on und Dreck lebt?“, fragt er. Dabei kennt Coll Dinge, die man schnell verbessern könnte: Fassaden und Treppenhäu­ser streichen, neue Haustüren anschaffen, kaputte Markisen entfernen, Stromkabel und Wäschelein­en verschwind­en lassen. Es wäre ein Anfang. Zahlreiche Häuser befinden sich jedoch in privater Hand, sodass die Stadt nicht direkt eingreifen kann. „Wir erleichter­n den Hausverwal­tungen aber die Anträge für Umbauarbei­ten und helfen ihnen dabei“, erklärt er. Kritiker hingegen werfen Stadt und Inselregie­rung vor, viele Jahre so gut wie nichts für Son Gotleu getan zu haben. Sie hätten sogar ein Projekt der Europäisch­en Union nicht umgesetzt.

Die Wirklichke­it ist komplexer. Viele Gebäude in Son Gotleu seien in den Händen von Banken, sagt Llorenç Coll. Hunderte Wohnungen stünden leer. Die Geldinstit­ute seien nicht darauf angewiesen, Wohnungen zu verkaufen, weil sie auf einen höheren Preis warteten. Das führe dazu, dass Wohnungen von Unbekannte­n besetzt werden, den sogenannte­n Okupas. Zudem pflegten und renovierte­n die Banken aus Sicht der Stadtverwa­ltung die Gebäude nicht. Das lasse sie verwahrlos­en und führe zu Konflikten mit den Bewohnern. Solange die Banken nicht sozialer agierten, ändere sich nichts an der Situation, sagt Coll.

Der Gang durch das Viertel endet, zurück am belebten Carrer d’Indalecio Prieto. Friseure schneiden dort Haare für acht Euro, ein Gemüsehänd­ler wiegt Bananen ab. Nicht viele Bewohner von Son Gotleu sind Mallorquin­er, das Viertel spiegelt das internatio­nale Mallorca. Jeder zweite Bewohner der Balearen, 46 Prozent, wurde nach Angaben des spanischen Statistika­mts nicht auf den Inseln geboren, sondern in einer anderen spanischen Region oder im Ausland. 46 Prozent, das ist die höchste Zahl in Spanien. Zu den größten Ausländerg­ruppen Mallorcas, das 900.000 Bewohnerin­nen und Bewohner hat, zählen Südamerika­ner, Afrikaner, Italiener, Briten – und Deutsche.

Llorenç Coll muss wieder in sein Büro, das sich im Stadtteilh­aus befindet. Er quert einen Platz. Mit Schülern hat er hier Florettsei­denbäume gepflanzt, WLAN installier­t und Stühle aufgestell­t. Der Platz ist breit und luftig. „Ich bin der Ermögliche­r, die Kinder machen die Arbeit“, sagt Coll. Er sagt, dass hier zuvor Erde statt Asphalt gewesen sei und die Kinder jetzt Rollschuh fahren könnten. Auf einem Schild steht der Name des Platzes: Parc de l’Esperança, Park der Hoffnung.

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Im Zentrum dagegen: prächtige Häuser, festliche Weihnachts­dekoration. Von hier aus ist es nicht weit nach Son Gotleu.
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Fotos: Clara Margais, dpa Häuserbloc­k im Stadtteil Son Gotleu, einem sozialen Brennpunkt Palmas.

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