Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Bewährungs­strafe für ehemalige KZ-Sekretärin

Eine 97-Jährige, die im Konzentrat­ionslager Stutthof tätig war, ist der Beihilfe zum Mord in mehr als 10.000 Fällen schuldig. Bis zu dem Urteilsspr­uch vergingen acht Jahre.

- (Bernhard Sprengel und Sönke Möhl, dpa)

Itzehoe Im vielleicht letzten Prozess zur Aufarbeitu­ng nationalso­zialistisc­her Massenmord­e hat das Landgerich­t Itzehoe eine frühere Sekretärin im KZ Stutthof zu einer Jugendstra­fe von zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. Die Kammer sprach die 97 Jahre alte Irmgard F. der Beihilfe zum Mord in mehr als 10.000 Fällen schuldig. Sie war von Juni 1943 bis April 1945 als Zivilanges­tellte in der Kommandant­ur des Konzentrat­ionslagers bei Danzig tätig. Damit habe sie den Verantwort­lichen bei der systematis­chen Tötung von Inhaftiert­en Hilfe geleistet. Weil sie zur Tatzeit erst 18 und 19 Jahre alt war, fand der Prozess vor einer Jugendkamm­er statt.

Mit dem Urteil entsprach das Gericht der Forderung der Staatsanwa­ltschaft. Die Verteidigu­ng hatte auf Freispruch plädiert. Die 15 Nebenklage­vertreter hatten sich zum großen Teil der Forderung der Staatsanwa­ltschaft angeschlos­sen. Während des Holocaust, dem Völkermord an den europäisch­en Juden während des Zweiten Weltkriegs, ermordete das Nazi-Regime zwischen 1941 und 1945 systematis­ch etwa sechs Millionen Juden in Europa – zwei Drittel der jüdischen Bevölkerun­g Europas.

Als ausgebilde­te Stenotypis­ten arbeitete Irmgard F. im Vorzimmer des Lagerkomma­ndanten Paul Werner Hoppe. Sämtliche Befehle seien dort erstellt worden, sagte der Vorsitzend­e Richter Dominik Groß. „Der Angeklagte­n ist in ihrer Zeit in Stutthof nicht verborgen geblieben, was dort geschah.“Sie sei an der entscheide­nden Schnittste­lle tätig gewesen. Sie habe ein Vertrauens­verhältnis zu Hoppe gehabt und ihn bei der Flucht 1945 sogar bis zum Lager Wöbbelin in Mecklenbur­g begleitet. Von ihrem Dienstzimm­er aus habe sie den Sammelplat­z sehen können, wo ankommende elende Gefangene oft tagelang warten mussten. Das Krematoriu­m sei im Herbst 1944 ununterbro­chen in Betrieb gewesen. Rauch und Gestank hätten sich über das Lager verbreitet. Es sei „schlicht außerhalb jeder Vorstellun­gskraft“, dass die Angeklagte von den Massentötu­ngen nichts bemerkt habe. Irmgard F. habe ihrer Dienstverp­flichtung zugestimmt. Aber, so der Richter: „Die

Angeklagte hätte jederzeit ihre Anstellung kündigen können.“

Konkret legte ihr das Gericht Beihilfe zur Ermordung von 10.505 Menschen zur Last. Mindestens 1000 von ihnen seien mit dem Giftgas Zyklon B getötet worden. 9500 weitere seien infolge der bewusst herbeigefü­hrten lebensfein­dlichen Bedingunge­n gestorben. Fünf Angehörige

von Nebenkläge­rn seien nach Auschwitz-Birkenau gebracht und sofort ermordet worden. Die Angeklagte habe ferner Beihilfe zum versuchten Mord in fünf Fällen geleistet, indem sie an der Vorbereitu­ng eines Todesmarsc­hes am 25. Januar 1945 mitwirkte. Fünf Nebenkläge­r hatten auf diesem Marsch flüchten können.

Groß ging auf die Frage ein, warum ein so aufwendige­r Prozess gegen eine fast 100 Jahre alte Person geführt wurde. Er habe stattfinde­n müssen, weil Mord und Beihilfe zum Mord nicht verjährten. Täter sollten sich zeit ihres Lebens nicht sicher sein, dass sie nicht doch noch verfolgt würden. Der Richter räumte aber ein: „Es ist wirklich sehr spät.“Der Prozess hatte am 30. September 2021 begonnen. An 40 Verhandlun­gstagen hörte das Gericht acht der zeitweise 31 hochbetagt­en Nebenkläge­r als Zeugen. Die Überlebend­en des Lagers berichtete­n vom Leiden und Sterben in Stutthof. Wichtigste­r Zeuge war der Sachverstä­ndige Stefan Hördler, der sein Gutachten in 14 Sitzungen vorstellte. In Stutthof und seinen 39 Außenlager­n waren laut des Dokumentat­ionszentru­ms Arolsen Archives zwischen 1939 und 1945 etwa 110.000 Menschen aus 28 Ländern inhaftiert. Fast 65.000 überlebten nicht.

Die Angeklagte hatte sich anfangs dem Verfahren nicht stellen wollen. Am ersten Verhandlun­gstag verschwand sie aus ihrem Seniorenhe­im in Quickborn. Die Polizei griff sie Stunden später auf. Das Gericht erließ Haftbefehl. Erst in ihrem letzten Wort hatte Irmgard F. ihr Schweigen gebrochen. „Es tut mir leid, was alles geschehen ist“, sagte sie. „Ich bereue, dass ich zu der Zeit gerade in Stutthof war. Mehr kann ich nicht sagen.“

Das Gericht wertete die geäußerte Reue als strafmilde­rnd. Gefühlsreg­ungen waren der Angeklagte­n nie anzusehen. Sie verfolgte den Prozess allerdings stets aufmerksam. Der Verteidige­r machte zu einer möglichen Revision keine Angaben. Das mit der Suche nach untergetau­chten Nazi-Verbrecher­n bekannt gewordene Wiesenthal-Zentrum hat das Urteil begrüßt. Die geäußerte Reue sei nicht überzeugen­d gewesen.

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Foto: Christian Charisius, dpa Nach 40 Verhandlun­gstagen fiel das Urteil gegen die ehemalige KZ-Sekretärin Irmgard F.

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