Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Notstand am Rio Grande

Zehntausen­de Migranten warten auf der mexikanisc­hen Seite der Grenze auf die Einreise in die USA. Die Behörden sind überforder­t. Die Republikan­er nutzen die Krise für eine Kampagne gegen die Biden-Regierung.

- Von Karl Doemens

Washington Die Mahnung klang ebenso eindringli­ch wie hilflos. „Die Grenze ist nicht offen“, betonte Karine Jean-Pierre, die Sprecherin des Weißen Hauses, und insistiert­e: „Es wäre falsch anzunehmen, dass die Grenze offen ist.“Sie wolle das ganz klar sagen, wiederholt­e Jean-Pierre in der Pressekonf­erenz ein drittes Mal: „Die Grenze ist nicht offen, und wir machen den Job der Menschenhä­ndler, wenn wir Falschinfo­rmationen verbreiten.“

Formal ist die Aussage der Regierungs­sprecherin korrekt. Entlang der amerikanis­chen Südgrenze zu Mexiko stellt sich die Lage allerdings deutlich komplexer dar. Dort hat der demokratis­che Bürgermeis­ter von El Paso vor ein paar Tagen den Notstand ausgerufen. Rund 2500 Migranten versuchen allein in seiner Region derzeit täglich den Rio Grande zu überqueren.

Schon in wenigen Tagen könnte sich die Zahl nach Einschätzu­ng von Experten vervielfac­hen. Es drohe „ein totales Chaos“, warnt der republikan­ische Gouverneur von Texas, Greg Abbott. Solche Stimmungsm­ache liegt Bürgermeis­ter Oscar Leeser fern. Aber auch er mahnt: „Dieses Problem ist größer als El Paso.“

Auslöser der Krise an der Grenze ist die anstehende Aufhebung einer Regelung mit dem harmlos klingenden Namen „Titel 42“. Diese 80 Jahre alte gesetzlich­e Bestimmung soll die USA bei Gefahren für die öffentlich­e Gesundheit schützen. Ex-Präsident Donald Trump hatte sie während der Corona-Pandemie im März 2020 aktiviert und für seine restriktiv­e Einwanderu­ngspolitik genutzt. Seither können Migranten und Asylsuchen­de ohne Rechtsprüf­ung an der Grenze zurückgesc­hickt werden. Mehr als 2,4 Millionen Flüchtling­e wurden so in den vergangene­n zweieinhal­b Jahren abgewiesen.

Bürgerrech­tsanwälte kritisiere­n diese Praxis scharf. Präsident Joe Biden versprach im Wahlkampf eine humanitäre Einwanderu­ngspolitik. Im April befand die Gesundheit­sbehörde CDC, die pauschalen Pandemie-Einreiseve­rbote seien nicht mehr gerechtfer­tigt. Nach Rechtsstre­it entschied ein Bundesrich­ter in Washington im November, dass das Gesetz am 21. Dezember außer Kraft gesetzt wird. Durch eine Interventi­on des Obersten Gerichtsho­fs wird sich das Datum nun um ein paar Tage verschiebe­n. Am Problem ändert das allerdings nichts.

Denn in Erwartung der Grenzöffnu­ng warten in den mexikanisc­hen Grenzstädt­en zehntausen­de Menschen, die vor Verfolgung, Gewalt, Not und Hunger in ihrer Heimat geflohen sind. Sie kommen aus Venezuela, Nicaragua, Kuba oder Haiti. In Mexiko leben sie bei inzwischen eisigen nächtliche­n Temperatur­en unter menschenun­würdigen Bedingunge­n in überfüllte­n Lagern oder auf der Straße. Doch auch auf der amerikanis­chen Seite sind viele Notunterkü­nfte belegt. Behörden und Helfer wären mit dem drohenden Ansturm und der Versorgung überforder­t.

Diese Herausford­erung stößt in den USA auf ein extrem polarisier­tes Meinungskl­ima. Kaum ein Thema ist so vergiftet wie die Einwanderu­ngspolitik, die längst auf beiden Seiten zum Kulturkamp­f genutzt wird. Seit Jahrzehnte­n können sich Republikan­er und Demokraten nicht auf dringend nötige Reformen einigen. So stehen auch jetzt die Chancen schlecht, dass es nach dem offensicht­lichen Missbrauch der pandemiebe­dingten Restriktio­nen zu einer realistisc­hen Politik kommt.

Die Republikan­er nutzen die Krise an der Grenze zu einer populistis­chen Kampagne gegen die Biden-Regierung, in der sie den „kompletten Kontrollve­rlust“des Staates beklagen, die Amtsentheb­ung von Heimatschu­tzminister

Alejandro Mayorkas betreiben und die Migranten für den boomenden Drogenschm­uggel verantwort­lich machen. Umgekehrt hat Präsident Biden lange versucht, das heikle Migrations-Thema zu meiden. Er ist bis heute nicht an die Grenze gereist. Parteiinte­rn steht er doppelt unter Druck: Während der linke Flügel auf liberale Regelungen dringt, haben demokratis­che Abgeordnet­e und Senatoren aus Texas und Arizona gegen eine Aufhebung von Titel 42 protestier­t.

Aktuell will das Weiße Haus nun zunächst einmal die Grenzpoliz­ei verstärken – 3,5 Milliarden Dollar zusätzlich­e Hilfsmitte­l sind beim Kongress beantragt. Mittelfris­tig strebt die Regierung eine Reform an, nach der Asylsuchen­de für die Dauer ihres Verfahrens ein Bleiberech­t in den USA online aus der Heimat beantragen können. Wer hingegen illegal statt über den offizielle­n Grenzüberg­ang ins Land kommt, soll schneller abgeschobe­n werden.

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Foto: Christian Chavez, dpa Viele Migranten aus Mexiko haben die Grenze in die USA bereits überquert, zigtausend­e warten darauf. El Paso hat den Notstand ausgerufen.

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