Augsburger Allgemeine (Land Nord)
„Oft sitze ich als einzige Frau am Tisch“
Daniela Cavallo vertritt rund 670.000 Volkswagen-Beschäftigte. Die wohl mächtigste Betriebsratsvorsitzende der Welt spricht über ihre italienische Herkunft, den Stand der Gleichberechtigung und Elektroautos.
Frau Cavallo, die Verantwortlichen des Willy-Brandt-Hauses hatten Sie eingeladen, eine Rede zu halten, die an das Erbe der Sozialdemokraten anknüpft. Zur Verblüffung sagten Sie dort: „Eigentlich dürfte ich hier gar nicht stehen.“Warum eigentlich?
Daniela Cavallo: Weil mir als Konzernund Gesamtbetriebsratsvorsitzenden des Volkswagen-Konzerns immer wieder die Frage begegnet, wie es eigentlich sein kann, dass in einem männlich geprägten Automobil-Unternehmen eine Frau an der Betriebsratsspitze steht. Und das ist so, obwohl ich bereits seit Mai 2021 den Betriebsrat leite. Und viele fragen mich nach meinem Migrationshintergrund – und wissen, dass ich als Erste in meiner Familie Abitur gemacht und berufsbegleitend studiert habe. Auch deswegen habe ich gesagt, dass ich eigentlich in Lübeck nicht die sogenannte Willy-Brandt-Rede halten dürfe. Meine Biografie spricht eben gegen den Weg in eine solche Position.
Ihre Eltern stammen aus Italien.
Cavallo: Sie kommen aus einem kleinen Dorf in Kalabrien mit rund 1500 Einwohnern. Mein Vater ist dann nach Deutschland gekommen und hat bei VW in Wolfsburg in der Fertigung gearbeitet, unter anderem in Halle 54 beim Golf. Immer wieder höre ich, es sei ja eine Besonderheit, dass ich als Italienerin in Wolfsburg zur VW-Gesamtbetriebsratsvorsitzenden gewählt wurde. Ich habe inzwischen neben dem italienischen aber auch den deutschen Pass. Mein Satz, dass ich hier eigentlich nicht stehen dürfte, bezieht sich also darauf, dass mein Weg in Deutschland leider noch nicht die Normalität darstellt. Das empfinde ich als traurig. Es gibt also in Deutschland noch viel zu tun. Karrieren wie meine müssen zur Normalität werden.
Doch viele bei VW freuen sich mit Ihnen, dass eine solche Karriere möglich ist.
Cavallo: Das stimmt. Ich spüre in den Reihen unseres Unternehmens bei vielen einen gewissen Stolz, dass ich als Frau und Italienerin die Interessen der Beschäftigten auf oberster Ebene vertreten kann. Dass ich das geschafft habe, ist ja auch ein Verdienst der VW-Belegschaft.
Dennoch scheint die Auto- und Metaller-Welt immer noch eine Macho-Welt zu sein.
Cavallo: Für mich ist die AutoWelt keine reine Macho-Welt mehr.
Warum denn? Die meisten Führungsfunktionen sind nach wie vor mit Männern besetzt.
Cavallo: Doch zumindest die Betriebsratswelt ist in Deutschland längst keine Macho-Welt mehr, weil wir schon seit 2002 eine Geschlechter-Quote haben. Dadurch konnten immer mehr Frauen in die Betriebsräte einziehen. In der Mitbestimmung bei VW ist Geschlechterdiversität eine Selbstverständlichkeit. Auf allen Ebenen sind die Betriebsratsgremien in einem schon recht guten Mix mit Frauen und Männern besetzt. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass dieser Fortschritt ohne Quote nicht möglich gewesen wäre.
Doch im Management gibt es noch Nachholbedarf, was weibliche Führungskräfte betrifft.
Cavallo: Was Geschlechterdiversität betrifft, sind wir als Betriebsrat sehr viel weiter, als das im Unternehmen der Fall ist. Ich kann das aus meiner persönlichen Erfahrung
bestätigen. Als ich 2002 erstmals in den Betriebsrat einzog, diskutierten wir noch intensiv darüber, wie wir es schaffen können, gute Frauen für Betriebsratsgremien zu gewinnen. Heute ist das eine Selbstverständlichkeit.
Dann müsste sich Volkswagen, was die Förderung von Frauen betrifft, am Betriebsrat orientieren.
Cavallo: Wir stellen jedenfalls fest: Je höher die Hierarchie-Ebenen bei VW sind, desto weniger Frauen sind bei Besprechungen vertreten. Ich erlebe das immer wieder bei Terminen: Oft sitze ich als einzige Frau am Tisch. Das trifft gerade zu, wenn Top-Manager und Vorstände dabei sind. Das muss sich ändern.
Sie haben nach der Geburt ihrer beiden Töchter Elternzeit genommen, was damals bei VW für eine Betriebsrätin ungewöhnlich war.
Cavallo: Heute ist das zum Glück normal. Als ich meine Kinder bekam, war es unüblich, dass gerade junge Frauen wie ich als Betriebsrätin eine längere Auszeit nehmen und dann wieder auf ihren Posten zurückkehren. Damals saßen bei uns vor allem Frauen in Betriebsräten, die ihre Kinderplanung abgeschlossen hatten oder keine Kinder wollten. Als ich in den Betriebsrat ging, habe ich von Anfang an meinen Kolleginnen und Kollegen offen gesagt, dass ich nicht auf Kinder verzichte.
Der Betriebsrat bei Volkswagen ist mächtig, manchem zu mächtig. Mitbestimmung wird großgeschrieben. Das bekam auch der frühere VW-Chef Diess zu spüren. Er musste auch gehen, weil er den Betriebsrat nicht immer einbezogen hat und aus dem Nichts mit
dem Abbau von rund 30.000 Arbeitsplätzen drohte.
Cavallo: Herr Diess und der Betriebsrat hatten bei solchen Themen unterschiedliche Auffassungen.
Das ist höflich umschrieben. Als Diess nicht zu einer Betriebsversammlung kommen wollte, ließen Sie ihn selbstbewusst wissen: „Ein VW-Chef kommt zu einer Betriebsversammlung, Punkt. Das ist bei uns VW-Kultur.“Er kam dann doch, sagte sein Treffen mit Investoren in den USA ab. Sie können sich durchsetzen.
Cavallo: Als Betriebsratsvorsitzende von VW muss man sich durchsetzen können. Sonst hätte ich nicht diese Position inne. Das war bei Herrn Diess so und das wird auch beim neuen VW-Chef Oliver Blume so sein. Betriebsrat und Unternehmensführung haben auch in der mitbestimmten VW-Welt nicht immer die gleiche Meinung. Doch Herr Blume begegnet uns auf Augenhöhe. Wir haben mit ihm die Basis für gute Kompromisse gelegt. Und uns ist nicht daran gelegen, alle paar Wochen Konflikte in der Öffentlichkeit auszutragen. Im Übrigen gab es auch mit Herrn Diess nicht dauernd Konflikte.
Wann hatten Sie sich denn lieb?
Cavallo: Wir standen als Betriebsrat voll hinter seiner Strategie, Volkswagen zu elektrifizieren. Und dass diese Strategie nach wie vor richtig ist, zeigt sich daran, dass wir sie unter Oliver Blume fortsetzen. Herr Blume hat aber andere Qualitäten als Herr Diess: Er nimmt das Management mit und sagt offen, wo wir stehen. Ich bin sehr mit der Arbeit von Herrn Blume zufrieden. Und er weiß, dass
die starke Mitbestimmung wesentlich zum Erfolg von Volkswagen beiträgt.
Wie funktioniert die VW-Mitbestimmung denn genau?
Cavallo: Bei uns werden unterschiedliche Interessen, also etwa die der Belegschaft und des Managements, austariert. Wir nehmen uns Zeit, die Dinge aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. Bei VW ist die Strategie nicht nur Managern, also Vorständen, vorbehalten. Auch die Arbeitnehmer-Seite denkt stark strategisch, um langfristig Erfolge zu erreichen. Wir wollen Industriearbeit und damit Standorte wie Beschäftigung absichern. Wirtschaftlichkeit und Beschäftigungssicherung sind bei Volkswagen gleichrangige und gemeinsame Ziele – das macht uns einzigartig und ich bin überzeugt: Es ist eine Erklärung für unseren Erfolg.
Wie gehen Sie bei dem sehr ehrgeizigen Unterfangen für Betriebsrätinnen und Betriebsräte konkret vor?
Cavallo: Indem wir uns dem Wandel, also der Elektrifizierung und Digitalisierung, nicht in den Weg stellen. Wir gestalten den Wandel mit. Wer sich nicht verändert, kann nicht bestehen. Dabei führt die Mitbestimmung bei VW dazu, dass Entscheidungen manchmal länger brauchen.
Was einen ungeduldigen Mann wie Diess genervt hat.
Cavallo: Doch wenn bei uns Entscheidungen, die mit uns diskutiert wurden, gefällt sind, werden sie auch von beiden Seiten getragen. Und das auch gegenüber der Belegschaft, selbst wenn es um schwierige Themen geht, also sich die Arbeitsplätze der Beschäftigten verändern. Unser Vorteil als Betriebsräte und Gewerkschafter ist, dass wir langfristig denken und nicht in Zeiträumen von Vorstandsverträgen. Wir wollen Arbeitsplätze auch für kommende Generationen sichern. Doch es gibt leider viele Unternehmen, die noch nicht für die Zeit, wenn die Verbrennungsmotoren auslaufen, so wie VW vorsorgen. Das bereitet vielen Betriebsräten Sorgen. Deswegen fordert die IG Metall Innovationen von den Geschäftsleitungen ein. Wegen all der Themen ist der eigene Arbeitsplatz so politisch wie noch nie.
Was meinen Sie damit?
Cavallo: Das ist ein Resultat der Elektrifizierung und Digitalisierung, aber auch der Globalisierung. So mussten wir während der Pandemie schmerzhaft erkennen, wie sich gestörte Lieferketten weltweit auswirken. Bis heute stecken wir in der Halbleiter-Krise fest. Und der unsägliche Angriffskrieg Putins auf die Ukraine hat uns erneut aufgezeigt, wie international verflochten unsere Wirtschaft ist.
Welche Konsequenzen ziehen Sie daraus?
Cavallo: Wegen all dem sind unsere Arbeitsplätze so politisch wie nie. Wir müssen alles daransetzen, Deindustrialisierung in Deutschland zu verhindern. Deswegen lasse ich nicht nach, gegenüber der Politik und in den Reihen meiner Gewerkschaft IG Metall den Blick dafür zu schärfen. Nur mit einer intakten Industrie können wir unseren Wohlstand verteidigen.
Doch deutsche Produktionsbetriebe, die bisher nur mit billigem Gas aus Russland wettbewerbsfähig waren, könnten in Schieflage geraten. Wie hoch ist die Gefahr der Deindustrialisierung?
Cavallo: Wenn der Druck auf solche Unternehmen noch größer wird, sehe ich die Gefahr einer Deindustrialisierung. Die USA versuchen, auch deutsche Investoren mit Subventionen und niedrigen Energiekosten anzulocken. Wir als Betriebsräte müssen für Investitionen kämpfen. Das ist oft schwer: Als wir uns gegenüber der VWSpitze 2010 für eigene Batteriefabriken ausgesprochen haben, wurden wir belächelt. Damals hieß es, das seien nur Zulieferteile. Aktuell bauen wir eine Batteriezellfabrik in Salzgitter auf. Und jetzt fordern wir den Bau eines weiteren Batteriezellwerkes in Deutschland.
Wie stehen die Chancen, dass auch eine zweite Fertigung nach Deutschland kommt?
Cavallo: Der Wettbewerb wird hart. Mögliche Standorte müssen sich mit internationalen messen, an denen Energie günstig ist und reichlich Subventionen fließen. Auch bei VW ist es nicht selbstverständlich, dass wir in Deutschland eine zweite Batteriezellfertigung bekommen. Die Entscheidung fällt nicht kurzfristig, wir haben zum Glück noch etliche Monate Zeit