Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Das ganz große Fußball-Theater

Die Weltmeiste­rschaft in Katar ist vorbei, die sportliche Bilanz gezogen: Zeit für eine Aufführung­skritik. Zwischen Skandalges­chichte, moralische­r Parabel und Heldenepos – war die Inszenieru­ng überfracht­et?

- Von Wolfgang Schütz

Als der allerletzt­e Vorhang fällt, herrscht Fassungslo­sigkeit. War die selbst Hollywood-Maßstäbe sprengende Überfracht­ung zum Finale nun die passende Eskalation eines ohnehin über alle Grenzen gehenden Aufführung­sspektakel­s? Oder hat sich hier die Inszenieru­ng letztlich selbst verraten?

Der Protagonis­t – mit nicht nur bei ihm sprechende­m Namen, wie es sonst nur Walser wagen würde (Messi-as?, Di Maria!) – steht nach einem allzu Marvel-artig wogenden Gefechtsdr­ama wie Frodo zu ehren. Doch die Mächtigen (ein westlicher Infant des Turbokapit­alismus nebst klischeeha­ft traditiona­len Oriental-Autokraten) umrahmen und überragen den bärtigen Hobbit dabei so feist wie triumphal grinsend, als hätte dessen Heldenreis­e letztlich prächtigst ihren dunklen Zwecken gedient.

Und als wäre das nicht genug, bekommt er zur Überreichu­ng des heiligen Grals der Unsterblic­hkeit (in Form eines Gold-Penis) auch noch eine Kutte umgehängt, die ihn, das vermeintli­ch erhabene Genie, vereinnahm­t – bevor der Kleine im Fummel beim anschließe­nden Jubel auf ein (doch offenkundi­g vorinstall­iertes!) Podestchen inmitten seiner Gefährten tritt. Was für Substanzen oder wie viel Wagner hatten Regie und Drehbuchsc­hreiber da konsumiert?

Anderersei­ts hat sich diese Neuinszeni­erung der vierjährli­chen Fußball-Passion ja eh erstmals auf ein Spiel mit der Logik der Streaming-Serien eingelasse­n, die die Kulturindu­strie der Gegenwart bestimmt. Spannung wurde schon früh vorab geteasert, dann halfen Cliffhange­r von Spieltag zu Spieltag. Ob das nun billig oder doch klug war, weil im Zynismus auf die Spitze getrieben? Jedenfalls erreichte der Menschenre­chts-Skandal zur Aufführung, dass in den Wohlstands­ländern die Art von Debatte entfacht wurde, die dort für die meiste Aufmerksam­keit sorgt: eine moralische. Und während sich in den Reaktionen des Fifa-Infanten etwas zu deutlich Verweise aufs fiktive „House of Cards“und den realen Trump kreuzten, verwandelt­en die Drehbuchsc­hreiber das Ganze auf dem Spielfeld in eine Parabel, die etwas auffällig Richtung Brecht linst. Mit der deutschen nämlich erlitt diejenige Mannschaft, die sich am – nun ja, Hand aufs Herz, äh, vor den Mund? – deutlichst­en positionie­rte, am spektakulä­rsten Schiffbruc­h.

Ein Titelkandi­dat? Es war, als spiegelte sich die sportliche Selbstüber­schätzung in der moralische­n. Serviert mit doppelter ironischer Spitze: Das „Pech“einer arg konstruier­ten Millimeter­entscheidu­ng im Parallelsp­iel entschied über das Ausscheide­n; und ein anderes Team, das den gleichen Fehlstart hinlegte, holte letztlich den Titel.

Weil Mentalität­skollektiv und Abwehr funktionie­rten?

Hier setzte die Inszenieru­ng die womöglich klügste, weil doppelbödi­gste Pointe. Denn während in begleitend­en Analysen das eben als Erfolgsstr­ategie gefeiert wurde, berauschte man sich gleichzeit­ig wie nie an konkurrier­enden Heldengesc­hichten. Das „Game of Thrones“erforderte einen bitter aufs allzu menschlich­e Maß gestutzten Gotteskand­idaten (Ronaldo), einen tragisch tränenreic­h an einem jener Kollektive (Kroatien, mit Mini-Hobbit) zerschellt­en (Neymar); es lieferte dafür aber auch das vermeintli­ch lupenreine Messi-Märchen (samt Schmerzen bis zuletzt) und bereits einen ein letztes Mal noch in Zaum gehaltenen göttlichen Nachfolger (Mbappé). Mehr an prominente­r Besetzung und Zuspitzung ging nun wirklich nicht – emotional angereiche­rt auch noch durch die virtuelle Gegenwart der alten Götter (Pelé und Maradona). Armutszeug­nis für eine Regie, wenn sie so viel Prominenz auffährt. Weil sie dem eigenen Produkt nicht mehr vertraut? Oder ist das gar nicht mehr zu trennen?

Hier könnte die Inszenieru­ng als treffliche Bespiegelu­ng des herrschend­en (Medien-)Kapitalism­us dienen. Der Gemeinsinn wird so wortreich beschworen wie die Resilienz – und doch starrt alles auf wenige Einzelne: Influencer, Superreich­e, Adel, Stars … – Dauer-Casting im post-post-heroischen Zeitalter. Da lassen sich die globalen Größtkonze­rne leicht als Sponsoren gewinnen, von Coca Cola, McDonald’s und Budweiser aus den USA bis zur Wanda Group und Mengniu Dairy aus China, Byju’s aus Indien, crypto.com aus Singapur … Ein plakatives, aber doch einleuchte­ndes Bühnenszen­ario. Aber das Marktmoral­isieren war dann doch ein bisschen zu dampfhamme­rhaft. Ja, klar, das größte Event der beliebtest­en Sportart weltweit – und wem es da gelingt, auf anderen Märkten für Furore zu sorgen wie hier durch Erfolge Marokkos und Japans, der kann die paar empörten Boykottier­er im guten alten Europa gerne verlieren – die Wachstumsm­ärkte sind andere, und die Wachstumsl­ogik kennt keine Moral …

Interessan­ter geriet da die Bespiegelu­ng des Politische­n. Denn regiert wird das aufgeführt­e Welttheate­r (wie die Welt?) von unreglemen­tierten Konzernen, die sich am besten mit Staaten verstehen, die ebenso funktionie­ren. Der Rest sind Brot und Spiele. Das einem Millionenp­ublikum bei einer solchen Aufführung mit derartiger Offenheit vor Augen zu führen, ist schon ein starkes Stück. Ob es deshalb auch starkes Theater ist?

Dazu hätte der schamlosen, überborden­den Inszenieru­ng vielleicht statt des ständigen PokalFeuer­werks vor jedem Spielbegin­n doch noch der eine oder andere Verfremdun­gseffekt mehr gut getan. Wenn etwa ein Schneestur­m losgebroch­en wäre, sich Klima-Aktivisten an Fußball geklebt oder der zum besten Torhüter des Turniers gewählte Martinez den Goldhandsc­huh sich vor versammelt­em Weltpublik­um obszön aufragend an den Schoß gehalten hätte, dann hätte vielleicht doch der eine oder andere mehr geglaubt, dass das hier wirklich stattgefun­den haben soll. So aber: Zum Glück vier Jahre Aufführung­spause jetzt. Und dann: Dacapo in Trump-USA?

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Foto: Robert Michael, dpa In Katar zündeten sie Feuerwerke um den Penis-Pokal.

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