Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Eugen Ruge: Metropol (122)
Immerhin bestätigten alle Akten und Dokumente, dass es sich um die geheime Funker- oder Radioschule der Komintern gehandelt habe. Seltsamerweise war aber zugleich von der Datsche der Komintern und sogar vom Sanatorium die Rede, das von einem Park umgeben sei.
Tatsächlich fand ich – Google sei Dank – zwei Sanatorien in Podlipki. Eines davon war offensichtlich recht neu, wie seine Architektur verriet; das andere jedoch, ein
Sanatorium für Prophylaxe und Herz-Kreislauf-Krankheiten, das sich LPU-Sanatorium nannte, zeigte auf seiner Website neben zwei oder drei neueren Bauten auch alte, villenartige Datschen.
Und dann kam die Überraschung: Unter dem Link Geschichte fand ich auf der Website des Sanatoriums den Hinweis, dass hier von 1924 bis 1936 eine Höhere Schule der Diversion und Aufklärung stationiert gewesen sei und dass sich bedeutende Kader der Kommunistischen Bewegung an diesem Ort erholt hätten. Obendrein liegt das Gelände direkt an der Jaroslawler Chaussee, von der an verschiedenen Stellen, so auch im Tagebuch von Dimitroff, zu lesen ist, wenn der Weg zum Punkt Zwei beschrieben wird.
Endlich scheint sich alles zu fügen. Mein russischer Verleger ruft im Sanatorium an, um einen Termin zu vereinbaren. Er wird von einer Stelle zur anderen verwiesen, versucht es schließlich beim Direktor persönlich. Dieser ist zwar nicht zu sprechen, aber seine Sekretärin erklärt, dass wir gern am Sonnabend, dem Soundsovielten, um 14 Uhr kommen können. Wir sollen uns an den Leiter des Klubs wenden, dessen Telefonnummer sie jedoch nicht herausgeben will.
Wir nehmen ein Taxi, was sich als klug erweist, denn es stellt sich heraus, dass das Sanatorium praktisch nur mit dem Auto zu erreichen ist – und nur mit dem Navi zu finden. Die Jaroslawler Chaussee ist inzwischen eine vielspurige Schnellstraße. Sie führt unmittelbar am Sanatoriumsgelände vorbei, und der Eingang hat die Form einer kurzen Autobahnausfahrt, so kurz, dass der Fahrer sie beinahe verpasst, was wiederum beinahe einen Auffahrunfall zur Folge hat.
Dann stehen wir vor einem Tor, das an das einer Kaserne erinnert. Rechts ein Wachhäuschen, in dem sich nichts regt. Erst als Oleg aussteigt, öffnet sich ein Fensterchen, und ein Wachmann in schwarzer Uniform erscheint. Er teilt uns mit, der Leiter des Klubs habe ihn angewiesen, uns nicht einzulassen.
Wir sind ziemlich verblüfft. Nach schier endlosem Hin und Her gelingt es uns, die Nummer des Klubleiters zu bekommen. Wir rufen ihn an und bitten um eine Erklärung. Der Mann hat einen georgischen Namen, spricht Russisch mit hörbarem Akzent. Er belehrt uns darüber, dass es für eine Besichtigung der Genehmigung des Direktors bedurft hätte. Wir wenden ein, die Sekretärin des Direktors habe uns einen Besichtigungstermin gegeben. Aber der Mann besteht darauf, dass der Direktor es persönlich hätte genehmigen müssen. Wir schlagen vor, den Direktor auf der Stelle zu fragen, doch dieser ist bedauerlicherweise nicht mehr im Haus, sagt der Mann. Auch seine Sekretärin sei nicht mehr zu sprechen, jetzt begännen die Maifeiertage, das sollten wir doch wissen.
Das Gespräch dauert inzwischen schon dreißig Minuten. Oleg hat das Telefon laut gestellt, ich höre mit. Vermutlich hätte ich den Mann längst angeschrien. Aber Oleg, als Sowjeterfahrener gegen Bürokratie resistent, bleibt erstaunlich gelassen. Neue Taktik: Wir haben auf der Website gelesen, dass es Tageseinweisungen für bestimmte prophylaktische Behandlungen gibt und wären natürlich bereit, uns privat, auf eigene Kosten, behandeln zu lassen.
Gewiss, sagt der Mann, aber eine Anmeldung sei erst in zwei Wochen möglich – nach den Maifeiertagen.
Oleg erklärt dem Mann, dass er einen Gast aus Deutschland bei sich habe, einen Schriftsteller, der extra nach Russland gekommen sei, um hier auf den Spuren seiner Großeltern zu recherchieren – weshalb eine Einweisung in zwei Wochen wenig nützlich sei. Aber der Mann bleibt stur. Bei alledem ist er freundlich.
Er sei bereit, sagt er, alles für uns zu tun. Er würde uns in jeder Hinsicht gern helfen. Nur wir müssten verstehen, dass er sich an die Vorschriften zu halten habe. Es bedürfe einer Genehmigung des Chefs. Der nicht zu sprechen ist. Dessen Sekretärin uns an den Klubleiter verweist. Der uns an den Direktor verweist. Und so weiter.
Wir geben es auf.
Bleiben immerhin die Bilder im Internet und die Darstellung der Sanatoriumsgeschichte, die ich bisher nur überflogen hatte, in der Hoffnung auf eine ausführlichere Darstellung bei diesem Besuch. Aber nun gibt es noch eine Überraschung. Zurück in Deutschland, klicke ich auf den Link, der zur Geschichte des Sanatoriums führt, und die Seite ist – leer. Die Überschrift Geschichte des Sanatoriums existiert noch, aber darunter: nichts.
So endet mein Versuch, den Punkt Zwei aufzufinden, die Funkerschule des legendären Geheimdienstes der Komintern, den mein Vater für den geheimsten Geheimdienst der Welt hielt.
Man könnte es glauben.