Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Die Krise erreicht die Mittelschi­cht

Diakonie sieht vor allem größere Familien gefährdet. Lebensmitt­el bald noch teurer?

- Von Stefan Lange und Rudi Wais

Sozialverb­ände wie die Diakonie, die Caritas oder die Arbeiterwo­hlfahrt haben sich bisher vor allem um die Menschen am unteren Ende der Einkommens­skala gekümmert – Menschen, die durch das soziale Netz gefallen sind oder aus anderen Gründen ihren Lebensunte­rhalt nicht mehr allein bestreiten können. Mittlerwei­le jedoch registrier­en sie auch einen wachsenden Zulauf aus anderen, eigentlich besser situierten Milieus. „Es ist längst auch der untere Mittelstan­d, der sich helfen lassen muss“, sagt der Präsident der Diakonie, Ulrich Lilie, im Interview

„Wir sind nicht der Verursache­r dieser Inflation.“

Nestlé-Chef Ulf Mark Schneider

mit unserer Redaktion. Konkret meint er damit Familien mit mehreren Kindern, Beschäftig­te mit unterdurch­schnittlic­hen Einkommen sowie viele Rentnerinn­en und Rentner, die angesichts der hohen Inflation nun schneller in Not gerieten und sich in ihrer Not an die Diakonie wenden. „Sie kennen oft die Hilfen gar nicht, die sie jetzt beantragen könnten, oder sind mit der Antragstel­lung überforder­t.“

Nach Berechnung­en des Deutschen Instituts für Wirtschaft­sforschung haben in der Pandemie acht Prozent der Beschäftig­ten in den mittleren Einkommens­klassen ihre Jobs verloren. Wie sehr die Mittelschi­cht unter Druck gerät, zeigt auch eine Studie des Münchner Ifo-Instituts im Auftrag der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung aus dem Dezember vergangene­n Jahres. Danach bröckelt die Mittelschi­cht in Deutschlan­d erkennbar, auch wenn viele Betroffene das noch nicht wahrhaben wollen. So fühlen sich der Mittelschi­cht mit 80 Prozent deutlich mehr Menschen zugehörig, als angesichts ihrer Einkommen eigentlich noch zu ihr gehören, nämlich 63 Prozent. Oder, anders gerechnet: 26 der 41 Millionen Haushalte in Deutschlan­d. Außerdem ist die Belastung durch Steuern und Abgaben bei ihr im europäisch­en Vergleich besonders hoch. Zur armutsgefä­hrdeten „unteren Mittelschi­cht“zählen die Ifo-Forscher Singles mit einem Nettoeinko­mmen zwischen 17.500 und 23.300 Euro im Jahr. Ein Paar mit zwei Kindern gehört bis zu einem Einkommen von knapp 50.000 Euro im Jahr noch zur unteren Mitte, staatliche Leistungen wie das Kindergeld mit eingerechn­et.

Obwohl die Inflations­rate leicht zurückgeht und Butter zuletzt wieder deutlich günstiger geworden ist, dürfte das tägliche Leben in Deutschlan­d für viele Menschen in diesem Jahr noch einmal teurer werden. Der Vorstandsv­orsitzende des Lebensmitt­elkonzerns Nestlé, Ulf Mark Schneider, prophezeit für die nächsten Monate weitere Preissteig­erungen in den Supermärkt­en. „Wir sind nicht der Verursache­r dieser Inflation, wir sind von ihr getroffen wie jeder Konsument auch“, sagte Schneider der Frankfurte­r Allgemeine­n Sonntagsze­itung. „Wir haben die für uns anfallende­n Mehrkosten noch nicht vollständi­g weitergege­ben.“Auch wenn die Teuerung nicht mehr so hoch sei wie im vergangene­n Jahr, bestehe für Nestlé „aufs volle Jahr gesehen noch ein Aufholbeda­rf.“

Nestlé ist der größte Lebensmitt­elherstell­er der Welt und hat nach eigenen Angaben für sein Sortiment in der ersten Hälfte des vergangene­n Jahres die Preise im Durchschni­tt um 7,5 Prozent angehoben. Tatsächlic­h lagen die Lebensmitt­elpreise nach Berechnung­en des Statistisc­hen Bundesamte­s im Dezember um 13,4 Prozent über denen des Vorjahres – dabei reicht die Spanne von 63 Prozent bei Zucker und 46 Prozent bei Schnittkäs­e bis zu knapp vier Prozent bei schwarzem oder grünem Tee.

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