Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Pekings bizarre Ballonfahrt hat Folgen
Mit dem Abschuss des chinesischen Spionageballons über den USA stürzen die angespannten Beziehungen der Supermächte auf einen neuen Tiefpunkt. Nach Pekings rätselhafter Provokation wächst das Risiko einer Eskalation.
Es war 11 Uhr am Samstagmorgen, als sich Kevin Tolson, der Sheriff von York County im Bundesstaat South Carolina, tatsächlich genötigt sah, über den offiziellen Twitter-Account seiner Behörde eine Warnung abzusetzen: „Ja, es gibt Berichte, dass der chinesische Ballon gerade über unserer Gegend fliegt. Versuchen Sie nicht, ihn abzuschießen“, mahnte der Beamte: „Was aufsteigt, kommt auch wieder runter – einschließlich eurer Kugeln.“
Dreieinhalb Stunden später war das Schicksal des inzwischen bis zur Atlantikküste abgedrifteten weißen Himmelsmonstrums besiegelt: Ein amerikanischer F22Kampfjet brachte es in 18 Kilometer Höhe mit einer Rakete zur Strecke. Augenzeugen wollen einen Knall gehört haben. Auf Videoaufnahmen kann man sehen, wie die Hülle, die zuvor das Ausmaß von drei Bussen umspannt haben soll, zerfetzt und samt einiger Metallteile in den Ozean stürzt. Mit dem
Abschuss endete die einwöchige Odyssee des mutmaßlichen Spionagesatelliten von der einsamen Inselkette der Aleuten in der Beringsee ganz im Westen über die Prärie von Montana und die Wälder von Missouri bis zum Urlaubsort Myrtle Beach im Osten des Landes, die von den Amerikanern vor dem Fernsehen und im Internet gebannt verfolgt wurde.
Doch mit dem Versinken der Überreste im Ozean endet der bizarre Spionagethriller und eine ernste politische Eskalation beginnt. Sie läuft nicht nur zwischen den USA und ihrem geostrategischen Rivalen China ab, deren Verhältnis auf einen absoluten Tiefpunkt gestürzt ist. Das Thema liefert auch innenpolitisch den seit den Zwischenwahlen im Kongress erstarkten Republikanern frische Munition, den Präsidenten als vermeintliches Weichei darzustellen und auf einen knallharten, notfalls auch kriegerischen Konfrontationskurs mit Peking zu drängen.
Mehrere Tage habe Biden den Abschuss aus Angst hinausgezögert und den Feind die größten Geheimnisse
ausspionieren lassen, behaupten nun die Trump-Anhänger. Das Weiße Haus und das USVerteidigungsministerium stellen das Vorgehen gegen den Ballon ganz anders dar. „Ich habe dem Pentagon am Mittwoch befohlen, ihn so schnell wie möglich abzuschießen“, erklärte Biden auf dem Weg zu seinem amtlichen Wochenenddomizil in Camp David. Der 80-Jährige sprach kurz und entschlossen wie ein Oberbefehlshaber und trug seine Piloten-Sonnenbrille. Nach seinen Worten rieten die Militärs, das ominöse Flugobjekt noch treiben zu lassen, bis der herunterstürzende Schrott niemand am Boden mehr gefährdete.
Der nachrichtendienstliche Schaden wird in der US-Hauptstadt als eher gering eingeschätzt. Umso gewaltiger sind die geopolitischen Auswirkungen. Der Flug des mutmaßlichen Überwachungsballons über das gesamte Land ist für Washington eine offene Provokation und „inakzeptable Verletzung“der Souveränität der USA. Er verschärft die angesichts der Lage um Taiwan und der Handelskonflikte ohnehin vorhandenen starken Spannungen.
Außenminister Antony Blinken sagte bereits vor dem Abschuss aus Protest seine China-Reise ab. Es wäre der erste Peking-Besuch eines US-Außenministers seit 2018 gewesen. Blinken nannte das Eindringen des feindlichen Himmelskörpers in den Luftraum der USA „inakzeptabel“und „unverantwortlich“. Im Kongress dürfte das Thema die anstehende Sitzungswoche komplett überschatten. Es liefert einem von den Republikanern ohnehin neu eingesetzten Sonderausschuss zum Wettstreit mit China frische Nahrung.
Die Beteuerung Chinas, bei dem Flugobjekt habe es sich um einen harmlosen Wetterballon gehandelt, der vom Kurs abgekommen sei, nimmt in Washington niemand ernst. Das Pentagon treibt nun mit Hochdruck die Bergung des Wracks voran, dessen Trümmer in nur 14 Meter Tiefe etwa zehn Kilometer vor der Küste liegen sollen. Ein Spezialschiff der Marine soll bald vor Ort sein. An Bord werden amerikanische Taucher und Spionageabwehr-Experten sein. Sie sollen den endgültigen Beweis für Pekings Spähangriff zutage fördern.
Taucher wollen nun Beweise für Chinas Spionage finden