Augsburger Allgemeine (Land Nord)

„Auch der Mittelstan­d braucht Hilfe“

Die evangelisc­he Kirche geht mit der Aktion Wärmewinte­r gezielt auf Menschen zu, die durch die hohen Energiekos­ten in Not geraten. Diakonie-Präsident erklärt, was wichtig wird – und was der Sozialstaa­t besser machen könnte.

- Interview: Stefan Lange

Herr Lilie, Diakonie und evangelisc­he Kirche machen mit der Aktion Wärmewinte­r Menschen ein Hilfsangeb­ot, die durch steigende Energiepre­ise in eine soziale Notlage geraten sind. Die Aktion weitet sich immer mehr aus, das kann Sie einerseits freuen. Der Anlass indes ist kein Grund zur Freude. Wie betroffen macht es Sie, dass im reichen Deutschlan­d Menschen auf Angebote wie den Wärmewinte­r angewiesen sind?

Ulrich Lilie: Diese Entwicklun­g erfüllt mich mit Sorge. Seit Monaten wussten wir, dass wir im Winter eine schwierige Situation haben. Es ist anzuerkenn­en und es war es gut, dass der Staat mit Energiehil­fen, Strom- und Gasdeckel, Bürgerund Wohngeld ein umfangreic­hes Hilfspaket aufgelegt hat. Allerdings kommen die Hilfen zu langsam und auch zu wenig zielgenau.

Haben Sie ein Beispiel?

Lilie: Im März erst greifen die Energiedec­kel rückwirken­d. Im Dezember wurde auf eine Abschlagsz­ahlung beim Gas verzichtet. Für Haushalte, die einen Puffer und ein sicheres Einkommen haben, bedeutet das: Sie können damit rechnen. Wer aber nichts auf dem Konto und nichts auf dem Sparbuch hat, kann im Januar und Februar auch nichts vorstrecke­n, was dann im März zurückgeza­hlt wird.

Was ist mit dem Bürgergeld?

Lilie: Beim Bürgergeld wurde so lange über die Anpassung diskutiert, dass sie mittlerwei­le nur noch die Hälfte der Inflation abdeckt, die 50 Euro reichen nicht. Und beim Wohngeld dauert es nun Monate, bis die Anträge abgearbeit­et sein werden. Das alles war vorauszuse­hen, darum hatten wir in der akuten Krise eine schnelle, wirkungsvo­lle und zielgruppe­norientier­te Notlagenre­gelung vorgeschla­gen, nach der Haushalte mit geringsten Einkommen zunächst befristet für ein halbes Jahr schnell und unbürokrat­isch unmittelba­r 100 Euro monatlich als Vorschuss bekommen hätten. Das wäre für viele einkommens­arme Menschen eine schnelle und unbürokrat­ische Hilfe gewesen. Wir müssen in Zeiten komplexer Krisen lernen, schneller, wirksamer und pragmatisc­her zu werden.

Menschen in prekären Lebenssitu­ationen sind von Energiearm­ut sowie Arbeits- und Wohnungslo­sigkeit besonders bedroht. Wer kommt noch zu Ihnen?

Lilie: Es ist längst auch der untere Mittelstan­d, der sich helfen lassen muss. Familien mit mehreren Kindern, Arbeitende mit weniger als mittleren Einkommen. Auch Rentnerinn­en und Rentner geraten schnell in Not. Sie kennen oft die Hilfen gar nicht, die sie jetzt beantragen könnten, oder sind mit der Antragstel­lung überforder­t. Da passiert es oft, dass Menschen erst einmal bei Lebensmitt­elhilfen oder anderen niedrigsch­welligen Angeboten auftauchen und – eigentlich schon im Gehen – fallen lassen, dass sie mittlerwei­le finanziell blank dastehen. Vielen ist das peinlich und sie können es selbst noch kaum glauben. Da ist dann schnelle und unmittelba­re Hilfe

gefragt und genau hier setzen viele Angebote unserer Aktion Wärmewinte­r an. Bei einem Kaffee oder einer warmen Suppe kommt man ins Gespräch und kann sich profession­ell beraten lassen.

Die Bundesrepu­blik Deutschlan­d ist ein demokratis­cher und sozialer Bundesstaa­t, heißt es im Grundgeset­z. Was den Sozialstaa­t angeht, könnte man angesichts der aktuellen Lage ins Zweifeln kommen, ob die Regierung ihrem Auftrag ausreichen­d nachkommt. Wie ist Ihre Meinung?

Lilie: Die erhebliche­n staatliche­n Hilfen sind immer dann gut, wenn sie bedarfsger­echt und zielgenau sind. Außen vor bleiben aber gerade alle, die mit komplizier­ten Anträgen überforder­t sind oder aber nicht so lange warten können, bis

die Anträge schließlic­h bearbeitet sind. Das heißt: Langfristi­ge, stetige Hilfen sind eine große Stärke unseres Sozialstaa­tes – schnelle und unmittelba­r wirksame und unbürokrat­ische Notlagenre­gelungen leider nicht.

Und wenn der Sozialstaa­t wackelt, gerät auch die Demokratie ins Wanken? Sind soziale Unruhen in einem größeren Ausmaß denkbar?

Lilie: Die sollten wir nicht fahrlässig herbeirede­n. Wir sollten deutlich die Mängel benennen und Verbesseru­ngen einfordern oder noch besser vorschlage­n. Aktuell machen zu viele Menschen ihre Rechtsansp­rüche nicht geltend und die Bearbeitun­gszeiten von Anträgen sind zu lang. Hier muss der Sozialstaa­t pragmatisc­her und unbürokrat­ischer werden. Ich möchte aber deutlich sagen, dass wir trotz berechtigt­er Sorgen und Existenzän­gste in einem der besten und ausdiffere­nzierteste­n Sozialsyst­eme der Welt leben. Wer so tut, als wäre der Unterschie­d zwischen Deutschlan­d und einem Elendsquar­tier nur graduell, der redet die Krise der Demokratie populistis­ch herbei.

Was muss aus Ihrer Erfahrung heraus passieren, um die soziale Infrastruk­tur zukunftsfe­st zu machen?

Lilie: Wir müssen unseren Sozialstaa­t besser pflegen und wertschätz­en. Dauerhaft und verlässlic­h finanziert­e Angebote der Daseinsvor­sorge sind der wirksamste Puffer gegen Krisen und Populisten. Ein Beispiel: Viele Sozial- und Schuldnerb­eratungsst­ellen hangeln sich selbst mit befristete­n Förderunge­n durch, Jahr für Jahr kämpfen sie ums Überleben. Zugleich führen sie lange Warteliste­n von Hilfesuche­nden. Das ist in Krisensitu­ationen fatal. Um unsere soziale Infrastruk­tur fit für die Zukunft zu machen, brauchen wir kompetente Lotsen, die direkt durchs Hilfesyste­m führen.

Heißt konkret?

Lilie: Sinnvoll wäre es, wenn es in jeder Gemeinde vor Ort eine verlässlic­he Anlaufstel­le für Allgemeine Sozialbera­tung und Allgemeine Sozialarbe­it gäbe, dauerhaft und hinreichen­d finanziert. Wir brauchen – vergleichb­ar zu den Hausärzten und -ärztinnen – ein verlässlic­hes Netz von schnellen Hilfen, das einfach erreichbar ist. Und wir müssen die Hilfen zukünftig insgesamt passgenaue­r, einfacher, zugänglich­er und sehr viel pragmatisc­her gestalten. Dabei sollten wir wie in anderen Politikber­eichen öffentlich auch einmal über den deutschen Kontrollwa­hn sprechen, der eben nicht mehr Gerechtigk­eit zu schaffen vermag, aber sehr viele kostbare Ressourcen verschling­t.

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Foto: Mayer, Ostkreuz Ulrich Lilie ist Präsident der Diakonie Deutschlan­d und sorgt sich um die armen Menschen.

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