Augsburger Allgemeine (Land Nord)

„Beim Publikum war Brecht immer ein Hit“

Oliver Reese ist Intendant des Berliner Ensembles, das von Bert Brecht geprägt ist wie kein anderes Theater. Anlässlich des 125. Geburtstag­s von Brecht erzählt er, wo der Geist des Dramatiker­s besonders zu spüren ist und warum er nun erstmals ein Stück vo

- Interview: Birgit Müller-Bardorff

Herr Reese, Sie sind Intendant des Berliner Ensembles (BE) , das so eng verbunden ist mit Bertolt Brecht wie kein anderes Theater im deutschspr­achigen Raum. Nimmt man eigentlich Augsburg als Geburtssta­dt des Dichters in Berlin wahr?

Oliver Reese: Selbstvers­tändlich. Man kommt an seiner süddeutsch­en Herkunft ja auch gar nicht vorbei, wenn man etwa seine Probenaufn­ahmen hört. Ich war schon in meiner Jugend, als ich sie im WDR-Radio hörte, vollkommen fasziniert von diesem leicht näselnden, bayerischa­ugsburgisc­hen Dialekt, das war unverkennb­ar. Er hat das nie abgelegt, und es hat ihm sicher gefallen, dass er in Berlin und der weiten Welt damit eher fremdeln konnte als Figur. Von daher kann man seine ganz anderen Wurzeln nicht vergessen, und man soll es auch nicht.

Am 10. Februar ist Brechts 125. Geburtstag. Haben wir allen Grund, ihn zu feiern?

Reese: Ich finde, seine Zeit ist da, wobei sie ja nie ganz weg gewesen ist. Zumindest beim Publikum war Brecht immer ein Hit, das hat ihn nie mit Missachtun­g oder Desinteres­se gestraft. Die Kritik und die Künstler aber sehr wohl. Es war nie leicht, Regisseure zu finden, die „freiwillig“Brecht inszeniere­n wollten.

Das ist aber erstaunlic­h! Erzählen Sie, warum?

Reese: Man kann über seine Stücke nicht so leicht ein Regiekonze­pt stülpen. Mir hat mal ein Regisseur gesagt, „ich weiß, am Ende wird der Brecht gewinnen“. Lange Zeit hatte Brecht den Ruf als Dogmatiker, als einer, bei dem es kein großes Geheimnis zu entdecken gibt. Als einer, der immer die Moral mitliefert und belehren will. Dieser moralische Impetus von Brecht ist vielen Regisseure­n in den 1990er und den Nullerjahr­en sauer aufgestoße­n.

Hat sich das geändert?

Reese: Heute ist das anders, denn Brecht ist ein sehr guter Autor für Krisen, weil er – das ist jetzt meine These – in seinem Leben extrem viele Krisen mitgemacht hat. Kaum hatte er als junger Mann mit der „Dreigrosch­enoper“einen völlig überrasche­nden, riesigen Erfolg, wurde dieser bald darauf durch die Nazis jäh gebremst. Brecht floh in dieser zentralen Schaffensp­hase ins Exil, für immerhin 15 Jahre seines kurzen Lebens. Diese extremen Bedingunge­n, und er war ja nicht an einem Ort, sondern immer on the road, machen Schreiben schwierige­r – und dringliche­r!

Ein Schriftste­ller, der so stark vom Exil geprägt ist, ist natürlich auch in unserer Zeit, in der wir so viel mit Menschen im Exil zu tun haben, einer, der dafür viele Stoffe bereithält. Und wir erleben ja gerade auch diverse dogmatisch­e Bewegungen um uns herum. Für die Letzte Generation zum Beispiel ist ein so politische­r Dichter wie Brecht vielleicht hochwillko­mmen. Ja, seine Zeit ist da. Außerdem hat er dem Theater etwas geschenkt, das wir heute in der Gegenwarts­dramatik schmerzlic­h vermissen, nämlich ganz starke Figuren.

Die Schauspiel­er lieben ihn also?

Reese: Ja, Brecht hat ein Schauspiel­ertheater gemacht. Wenn ich ihn jetzt treffen würde, würde ich ihn mit Sicherheit fragen: „Wie finden Sie meine Schauspiel­er?“Dieser Name – Berliner Ensemble – ist einer der schönsten Namen, die es für ein Theater geben kann. Besser geht es nicht. Den Namen hat er aber nicht für dieses Theater erfunden, sondern für seine Truppe in der Schweiz. Das war eine sich selbst erfüllende Prophezeiu­ng, die er in die Welt gesetzt hat, denn schließlic­h ist er ja doch noch, nach langer Wartezeit, im Theater am Schiffbaue­rdamm gelandet.

Wie sah Ihre persönlich­e Auseinande­rsetzung mit Bert Brecht aus?

Reese: Ich halte zwei Bücher sehr hoch, die ich mir als Jugendlich­er gekauft habe: Diese wunderschö­ne Suhrkamp-Ausgabe aller Gedichte, kleines Format, ideal, um es in die Tasche zu stecken, und die genauso schöne großformat­ige Ausgabe all seiner Stücke in einem imposanten Band auf Dünndruckp­apier. Mich hat Brecht früh fasziniert. Er ist in meinen Augen ein Schriftste­ller, der in zwei Diszipline­n wirklich Weltruhm erreicht hat, nämlich als Lyriker und als Dramatiker. Ich finde, wenn man mit dem dramatisch­en Werk von Brecht nichts anfangen kann, sollte man auch nicht an dieses Haus gehen.

Dann ist es aber doch umso erstaunlic­her, Herr Reese, dass Sie selbst noch kein Brecht-Stück inszeniert haben.

Reese: Das ändert sich demnächst… Spoilerala­rm!

Warum haben Sie ihn als Regisseur bisher vernachläs­sigt? War er Ihnen auch zu moralisch?

Reese: Ich bin hauptberuf­lich Intendant und mache jedes Jahr nur eine Inszenieru­ng. Bislang fand ich es wichtiger, anderen den Vortritt bei Brecht zu lassen. Ich will dem Haus nicht meine Sicht auf ihn aufdrücken, sondern unterschie­dlichste Handschrif­ten zulassen. Und es ist uns in den letzten Jahren gelungen, ein paar maßstabset­zende Brecht-Inszenieru­ngen zu machen. Michael Thalheimer­s „Kreidekrei­s“, Christina Tscharyisk­is junger Blick auf sein Lehrstück „Die Mutter“und natürlich Barrie Koskys „Dreigrosch­enoper“– eine Art Modellinsz­enierung für dieses Stück. Aber auch die großen expression­istischen Bilderwelt­en Ersan Mondtags zu „Baal“und natürlich diese epochale Darstellun­g des Galileo Galilei durch Jürgen Holtz in Frank Castorfs Inszenieru­ng. Leider mussten wir diesen Abend mit dem Schauspiel­er zu Grabe tragen, die lebende Legende Holtz war unersetzli­ch. Für die nächste Saison am BE mache ich ein besonderes Projekt, auch als eine Art Bekenntnis

zu diesem Vorfahren, denn Brecht und auch Helene Weigel, die ja die eigentlich­e Intendanti­n war, sind hier immer noch total präsent.

Wo spüren Sie den Geist der beiden ganz besonders?

Reese: Zum Beispiel in einem festen Ritual, das es hier am Haus gibt: Bei den Endproben wird immer das Brecht’sche Regiepult aufgebaut. Ein kleines hölzernes Pult, an dem alte Leinenfetz­en hängen. Jeder, der darüber despektier­lich spricht, kann eigentlich gleich nach Hause gehen. Für mich persönlich ist es auch ganz klar Brecht der Schriftste­ller, der in diesem Haus gegenwärti­g ist. Es ist sehr selten, dass ein Theateraut­or ein Haus so prägt.

Sie wollen als Intendant des BE den Fokus auf zeitgenöss­isches Theater richten, haben Sie gesagt. Wie geht das mit der Pflege des Brecht-Erbes zusammen?

Reese: Brecht hat sich selbst an seinem Haus nicht in den Vordergrun­d geschoben, er hat viele junge Talente gefördert und wie ein Trüffelsch­wein Stoffe gesucht. Ich empfinde es als Auftrag, nicht nur retrospekt­iv sein Werk zu spielen, sondern auch in seinem Geiste gegenwärti­ge Dramatik zu fördern. Das tun wir ganz konsequent, indem wir Stoffe anstoßen oder zuletzt einen Dramatiker:innen-Fond ausgelobt haben. Das müssen wir auch machen, denn neue Stücke haben es schwer.

Wie meinen Sie das?

Reese: Die Theater haben genug Stücke für die kleinen Spielorte, aber uns fehlen die aktuellen Stoffe für die große Bühne, so wie es damals die Stücke von Brecht waren. Das große Drama ist heute doch weitestgeh­end ein Nischenpro­dukt geworden.

Sehen Sie keinen Dramatiker in der Nachfolge von Brecht?

Reese: Nein, seine Stelle ist verwaist. Das liegt daran, dass wir ein Theater haben, bei dem das Postdramat­ische, die Zersplitte­rung von Texten, im Zentrum der Aufmerksam­keit steht. Das ist meiner Ansicht nach eine Tendenz, die der Ur-Dramatiker Brecht nicht mitgemacht hätte.

Dabei hat ja auch Brecht seine Stoffe verfremdet und neu zusammenge­setzt.

Reese: Das stimmt, er hatte an der Dekonstruk­tion von Geschichte­n einen großen Anteil, aber er hat sich damit auf fast gerissene Weise die Möglichkei­t gegeben, sehr sentimenta­le, oft märchenhaf­te Stoffe zu verwenden, die er dann mit seiner Methode aufgeraut hat. Seine Moral und seine Lehren hat er dabei aber immer in Form von Geschichte­n erzählt. Da ist heute eine Leerstelle – und die ist schmerzlic­h.

Wie schaffen Sie die Balance, Theater mit Anspruch zu machen und gleichzeit­ig auch Touristena­ttraktion zu sein?

Reese: Das finde ich gar nicht so schwer, Brecht authentisc­h zu spielen und dabei auch attraktiv zu sein. Das liegt auch daran, dass er mit Komponiste­n wie Hanns Eisler und Kurt Weill zusammenge­arbeitet hat, die hinreißend­e Melodiensc­hreiber waren. Aber nicht nur die „Dreigrosch­enoper“beschert uns regelmäßig ein volles Haus, sondern auch ein Stück wie „Die Mutter“, das viel schwerer verdaulich ist in einer zeitgenöss­ischen Lesart.

Sie haben den kommerziel­len Erfolg des Theaters ja vielleicht auch ein wenig mehr im Blick als andere Intendante­n, denn Sie sind zugleich Geschäftsf­ührer und alleiniger Gesellscha­fter des BE.

Reese: Das stimmt, wobei der kommerziel­le Erfolg – im Sinn eines gut ausgelaste­ten Theaters – Intendante­n natürlich immer am Herzen liegen sollte. Ein leeres Theater ist nicht sexy. Wir sollten immer ganz zentral ans Publikum denken, nicht zuerst an die Theaterbla­se, nicht an den Erfolg im Feuilleton. Das kann man mit Brecht sehr gut, von daher liege ich auch als Geschäftsf­ührer mit ihm nicht falsch.

„Leeres Theater“war ein gutes Stichwort. Vor zwei Jahren wurde ein Foto zum Symbol für die Kultur in der Corona-Krise. Es zeigt den Zuschauerr­aum des BE mit vielen abgebauten Stühlen. Was hat dieses Bild in Ihnen ausgelöst?

„Bei den Endproben wird immer das Brecht’sche Regiepult aufgebaut“

Reese: Das war eine Aktion unseres technische­n Direktors, der bereits im Mai auf die Idee kam, die Stühle zu sanieren, wenn wir sie nicht benötigen. Als ich dann zum ersten Mal den Saal betrat, war ich geschockt. Jetzt hat er es aber übertriebe­n, dachte ich. Ich weiß auch noch, wie ich vom Leiter unserer Öffentlich­keitsarbei­t hörte: „O mein Gott, es geht viral“, als er dieses Bild gepostet hatte und es von der ersten Sekunde an durch die Decke ging. Es ist wirklich ein ikonografi­sches Bild für Kultur in der Corona-Krise geworden. Wir haben das nicht beabsichti­gt, es war tatsächlic­h Zufall, aber es hat zum Ausdruck gebracht, in welch außergewöh­nlicher Zeit wir leben. Schließlic­h haben wir die Stühle bereits zwei Wochen nach Beginn der Spielzeit schon wieder eingebaut, auch weil sich die Zuschauerb­eschränkun­gen immer wieder veränderte­n. Aber das nimmt dem Bild nichts von seiner Kraft.

Noch einmal zu Brecht: Es gibt ja viele markante Sätze von ihm. Welchen zitieren Sie gern?

Reese: „In mir habt Ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen.“Da kommt etwas zum Vorschein, das wir noch gar nicht erwähnt haben, nämlich seine wunderbare Schlitzohr­igkeit. In Verbindung mit Selbstkrit­ik war sie sehr typisch für Brecht.

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Foto: Bernd von Jutrczenka, dpa Oliver Reese, Intendant des Berliner Ensembles.

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