Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Studieren im Krisengebiet
Selbst in Flüchtlingslagern studieren Menschen – sie sind an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt eingeschrieben. Über ein bemerkenswertes Bildungsprojekt zur Bekämpfung von Fluchtursachen.
Barbara Meyer spricht von einem „Hunger nach Bildung“, den es weltweit gebe. In Afghanistan etwa. Oder im Irak, wo Jesiden, eine von Islamisten verfolgte ethnisch-religiöse Gruppe, in andere Landesteile fliehen mussten. Oft in Gebiete ohne Strom und Schulen. Meyer spricht von Kakuma, einem Flüchtlingscamp in Kenia, in dem mehr als 100.000 Menschen unter schwierigsten Bedingungen leben. Doch selbst dort gibt es Studierende. Sie sind eingeschrieben an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (KU).
Meyer, an der KU Professorin für Pädagogik, Schulpädagogik und Inklusion, ist an der Entwicklung und Koordination eines Bildungsprogramms beteiligt, das bemerkenswert ist – umso bemerkenswerter in Zeiten, in denen eine aufgeregte Debatte über das Thema Migration geführt wird. Eine, bei der zunehmend die Fragen in den Vordergrund rücken: Welche Zuwanderung brauchen wir? Und: Wie lassen sich Fluchtursachen wirksam bekämpfen?
Der Ansatz, den die KU in Kooperation mit dem jesuitischen Bildungswerk „Jesuit Worldwide Learning – Higher Education at the Margins“(JWL) verfolgt, zielt unter anderem auf die Fluchtursachenbekämpfung. Indem jungen Menschen an den Rändern (at the margins) der Gesellschaft Zugang zu Hochschulbildung verschafft wird. Und das in den ärmsten Gebieten der Welt, in Krisenregionen, sogar in Flüchtlingslagern. Dabei schwingt ein weiterer Gedanke mit: Regionen mit wenig Bildung hätten ein hohes Konfliktpotenzial, wie es der bei Augsburg aufgewach- sene JWL-Präsident Pater Peter Balleis formuliert. Die Ausbildung kritischer und lösungsorientierter Persönlichkeiten hält er für einen „Schlüssel zum Frieden“.
Auf die Frage, ob für Menschen in Flüchtlingscamps denn nicht anderes im Vordergrund stehe als universitäre Bildung, erzählt Meyer von einem Beispiel aus Kenia, das sie sehr berührt habe. Familienmitglieder hätten für zwei Mädchen der Familie ihre jeweils eigenen Reisrationen verkauft, um den beiden die Busfahrt zu einem „Lernzentrum“zahlen zu können. An zwei Tagen in der Woche habe es dann kein Abendessen für sie gegeben.
Ein Lernzentrum – manchmal nur ein einfacher Container oder ein Zelt – mit Computerausstattung und Stromanschluss ist der eine Teil des Konzepts. Vor Ort vermitteln Jesuiten oder deren Angestellte und zunehmend ehemalige JWL-Teilnehmende verschiedenste Lerninhalte, die Spanne reicht von Englisch-Sprachkenntnissen bis hin zu einem Bachelor-Abschluss in „Nachhaltiger Entwicklung“. Beziehungsweise stellen sie digitale Lernmaterialien zum Herunterladen oder Ausdrucken zur Verfügung. Diese – und das ist der andere Teil – wurden und werden von Professorinnen und Professoren aus aller Welt erstellt. Auch an der KU. Deren aktuell 159 JWL-Studierende erhalten aus Eichstätt und Ingolstadt auch Rückmeldungen auf ihre digital eingereichten Arbeiten und eine Benotung.
Seit 2019 ist die Universität Teil des seit 2010 bestehenden JWLProgramms, das im Jahr 2022 insgesamt 73 Lernzentren und knapp 8000 Studierende zählte. Die KU engagiert sich an dem Projekt mit zwei Professorinnen und zwei wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen. Die laufenden Kosten für die Kurse, die nicht durch die KU und die anderen teilnehmenden Universitäten getragen werden, sowie die Studentenwerksbeiträge übernimmt JWL aus Spenden- und Kirchengeldern, unter anderem des Bistums Augsburg.
Am Ende eines Kurses kann ein Zertifikat stehen – wie im Falle der drei von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt angebotenen Kurse mit ihren seit 2019 insgesamt 764 Studierenden. Zum Beispiel eines über die erfolgreiche Teilnahme an einer sechsmonatigen Fortbildung zur Lehrkraft, die nun neue Methoden der Wissensweitergabe kennt. Oder, wie im Falle einer indischen Universität, ein Bachelor-Abschluss.
Barbara Meyer sagt: „Ein Zertifikat einer europäischen Universität ermöglicht den Studierenden häufig den Zugang zu bestimmten
Berufen. Wir wissen, dass viele von ihnen einen Job gefunden haben oder sich in ihren Communitys engagieren.“Nach Europa oder gezielt nach Deutschland kommen, das wollten die wenigsten. Nicht einmal Geflüchtete, die im kenianischen Flüchtlingslager Kakuma leben, sagt die Professorin.
Die Erfahrung sei: „Die JWLAbsolventen wollen ihr erworbenes Wissen weitergeben.“Meyer verweist auf eine Auswertung des mit bislang insgesamt 641 Teilnehmenden größten KU-Kurses, der Fortbildung zur Lehrkraft. Demnach gaben fast alle der Befragten an, nicht bloß ihr Leben habe sich verbessert. Über Afghanistan, wo die Taliban nach dem Abzug internationaler Truppen seit 2021 wieder an der Macht sind, sagt Meyer: „Erst als den Menschen, insbesondere den Mädchen und Frauen, Bildung verboten wurde, kam der Impuls zur Flucht. Solange Bildung möglich war, wollten viele nicht fliehen.“Nach wie vor gibt es JWLAngebote in dem Land, häufig nehmen die Studierenden dafür einen enormen Aufwand in Kauf. Derzeit hat die KU 31 Studierende in Afghanistan.