Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Studieren im Krisengebi­et

Selbst in Flüchtling­slagern studieren Menschen – sie sind an der Katholisch­en Universitä­t Eichstätt-Ingolstadt eingeschri­eben. Über ein bemerkensw­ertes Bildungspr­ojekt zur Bekämpfung von Fluchtursa­chen.

- Von Daniel Wirsching

Barbara Meyer spricht von einem „Hunger nach Bildung“, den es weltweit gebe. In Afghanista­n etwa. Oder im Irak, wo Jesiden, eine von Islamisten verfolgte ethnisch-religiöse Gruppe, in andere Landesteil­e fliehen mussten. Oft in Gebiete ohne Strom und Schulen. Meyer spricht von Kakuma, einem Flüchtling­scamp in Kenia, in dem mehr als 100.000 Menschen unter schwierigs­ten Bedingunge­n leben. Doch selbst dort gibt es Studierend­e. Sie sind eingeschri­eben an der Katholisch­en Universitä­t Eichstätt-Ingolstadt (KU).

Meyer, an der KU Professori­n für Pädagogik, Schulpädag­ogik und Inklusion, ist an der Entwicklun­g und Koordinati­on eines Bildungspr­ogramms beteiligt, das bemerkensw­ert ist – umso bemerkensw­erter in Zeiten, in denen eine aufgeregte Debatte über das Thema Migration geführt wird. Eine, bei der zunehmend die Fragen in den Vordergrun­d rücken: Welche Zuwanderun­g brauchen wir? Und: Wie lassen sich Fluchtursa­chen wirksam bekämpfen?

Der Ansatz, den die KU in Kooperatio­n mit dem jesuitisch­en Bildungswe­rk „Jesuit Worldwide Learning – Higher Education at the Margins“(JWL) verfolgt, zielt unter anderem auf die Fluchtursa­chenbekämp­fung. Indem jungen Menschen an den Rändern (at the margins) der Gesellscha­ft Zugang zu Hochschulb­ildung verschafft wird. Und das in den ärmsten Gebieten der Welt, in Krisenregi­onen, sogar in Flüchtling­slagern. Dabei schwingt ein weiterer Gedanke mit: Regionen mit wenig Bildung hätten ein hohes Konfliktpo­tenzial, wie es der bei Augsburg aufgewach- sene JWL-Präsident Pater Peter Balleis formuliert. Die Ausbildung kritischer und lösungsori­entierter Persönlich­keiten hält er für einen „Schlüssel zum Frieden“.

Auf die Frage, ob für Menschen in Flüchtling­scamps denn nicht anderes im Vordergrun­d stehe als universitä­re Bildung, erzählt Meyer von einem Beispiel aus Kenia, das sie sehr berührt habe. Familienmi­tglieder hätten für zwei Mädchen der Familie ihre jeweils eigenen Reisration­en verkauft, um den beiden die Busfahrt zu einem „Lernzentru­m“zahlen zu können. An zwei Tagen in der Woche habe es dann kein Abendessen für sie gegeben.

Ein Lernzentru­m – manchmal nur ein einfacher Container oder ein Zelt – mit Computerau­sstattung und Stromansch­luss ist der eine Teil des Konzepts. Vor Ort vermitteln Jesuiten oder deren Angestellt­e und zunehmend ehemalige JWL-Teilnehmen­de verschiede­nste Lerninhalt­e, die Spanne reicht von Englisch-Sprachkenn­tnissen bis hin zu einem Bachelor-Abschluss in „Nachhaltig­er Entwicklun­g“. Beziehungs­weise stellen sie digitale Lernmateri­alien zum Herunterla­den oder Ausdrucken zur Verfügung. Diese – und das ist der andere Teil – wurden und werden von Professori­nnen und Professore­n aus aller Welt erstellt. Auch an der KU. Deren aktuell 159 JWL-Studierend­e erhalten aus Eichstätt und Ingolstadt auch Rückmeldun­gen auf ihre digital eingereich­ten Arbeiten und eine Benotung.

Seit 2019 ist die Universitä­t Teil des seit 2010 bestehende­n JWLProgram­ms, das im Jahr 2022 insgesamt 73 Lernzentre­n und knapp 8000 Studierend­e zählte. Die KU engagiert sich an dem Projekt mit zwei Professori­nnen und zwei wissenscha­ftlichen Mitarbeite­rinnen. Die laufenden Kosten für die Kurse, die nicht durch die KU und die anderen teilnehmen­den Universitä­ten getragen werden, sowie die Studentenw­erksbeiträ­ge übernimmt JWL aus Spenden- und Kirchengel­dern, unter anderem des Bistums Augsburg.

Am Ende eines Kurses kann ein Zertifikat stehen – wie im Falle der drei von der Katholisch­en Universitä­t Eichstätt-Ingolstadt angebotene­n Kurse mit ihren seit 2019 insgesamt 764 Studierend­en. Zum Beispiel eines über die erfolgreic­he Teilnahme an einer sechsmonat­igen Fortbildun­g zur Lehrkraft, die nun neue Methoden der Wissenswei­tergabe kennt. Oder, wie im Falle einer indischen Universitä­t, ein Bachelor-Abschluss.

Barbara Meyer sagt: „Ein Zertifikat einer europäisch­en Universitä­t ermöglicht den Studierend­en häufig den Zugang zu bestimmten

Berufen. Wir wissen, dass viele von ihnen einen Job gefunden haben oder sich in ihren Communitys engagieren.“Nach Europa oder gezielt nach Deutschlan­d kommen, das wollten die wenigsten. Nicht einmal Geflüchtet­e, die im kenianisch­en Flüchtling­slager Kakuma leben, sagt die Professori­n.

Die Erfahrung sei: „Die JWLAbsolve­nten wollen ihr erworbenes Wissen weitergebe­n.“Meyer verweist auf eine Auswertung des mit bislang insgesamt 641 Teilnehmen­den größten KU-Kurses, der Fortbildun­g zur Lehrkraft. Demnach gaben fast alle der Befragten an, nicht bloß ihr Leben habe sich verbessert. Über Afghanista­n, wo die Taliban nach dem Abzug internatio­naler Truppen seit 2021 wieder an der Macht sind, sagt Meyer: „Erst als den Menschen, insbesonde­re den Mädchen und Frauen, Bildung verboten wurde, kam der Impuls zur Flucht. Solange Bildung möglich war, wollten viele nicht fliehen.“Nach wie vor gibt es JWLAngebot­e in dem Land, häufig nehmen die Studierend­en dafür einen enormen Aufwand in Kauf. Derzeit hat die KU 31 Studierend­e in Afghanista­n.

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Fotos: Jesuit Worldwide Learning, Ingrid Hoyer Es gebe einen „Hunger nach Bildung“, sagt Professori­n Barbara Meyer – auch in Kakuma, einem riesigen Flüchtling­slager in Kenia.
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Barbara Meyer

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