Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Das Leben einer anderen Anne Frank

Mit Musik und in harten Bildern: Das Staatsthea­ter Augsburg zeigt die Oper „Das Tagebuch der Anne Frank“. Die Geschichte des Mädchens, das die Gewalt der NS-Zeit im Tagebuch beschrieb, rückt mit Wucht in die Gegenwart.

- Von Veronika Lintner

Asche schneit auf Anne Frank. Vom Himmel fallen graue Flocken, sie rieseln auf das Mädchen, das dort am Bühnenrand in einem Schutthauf­en kauert. Anne hat sich auf Trümmer gebettet, und im Staub liegen bei ihr: eine Puppe, ein Buch, Kopfhörer, die Reste einer Kindheit. Anne, am Ende. Ihr Haar sogar raspelkurz. Und exakt in diesem Moment zersplitte­rt es, das Bild der Anne Frank, so wie es sich die Welt gemalt hat.

Fast jeder kennt ihr Gesicht, von alten Fotografie­n aus ihrem jungen, echten, wahren Leben: schwarze Locken, viel Neugier und Scherz in den Augen. Aber hier spielt jetzt die Oper „Das Tagebuch der Anne Frank“– und Regisseuri­n Nora Bussenius baut sich auf der Augsburger Brechtbühn­e ihr eigenes Bild von Anne. Sie bricht es sogar, in einer Inszenieru­ng mit Knall und Schock und dem virtuellen Gastauftri­tt eines Diktators. Welche Anne ist das? Das jüdische Mädchen im Versteck, das die Gewalt der NS-Zeit in Notizen festhielt, das im KZ Bergen-Belsen starb? Oder eine Anne, die heute weiterlebt, im Leben der Kriegskind­er an den Schlachtfe­ldern unserer Tage – aller Tage? Auf diese Frage spitzt Bussenius alles zu.

Geschickt führt die junge Berliner Regisseuri­n das Publikum ins Stück, noch bevor der erste Takt klingt. In Stewardess­en-Manier säuselt eine Ansage: Herzlich willkommen, bienvenue im „Museum der letzten Dinge“. Und jene „Letzten“dekorieren die Bühne. Ein Eisbär hängt im Glaskasten von der Decke – in dieser Zukunftsfa­ntasie wohl schon ausgestorb­en. Auch eine seltene Pflanze liegt im Kasten wie im Labor-Treibhaus. Und zackig wie ein Roboter, wie eine Aufziehbal­lerina setzt sich hinter der Glasscheib­e in Bewegung: Olena Sloia, Sopranisti­n. Mutterseel­enallein spielt sie Anne Frank, die einzige Rolle dieser Mono-Oper. Eine Anne zwischen Vergangenh­eit, Zukunft und Gegenwart.

Der Krieg in der Ukraine war noch nicht ausgebroch­en, als das Staatsthea­ter diese Kammeroper, ein Werk des Russen Grigori Frid, mit auf den Plan genommen hatte. Aber die Umstände der Zeit fallen jetzt in die Inszenieru­ng. Nicht an die Ukraine denken? Den Krieg ignorieren? Unmöglich. Denn zwei Kindheiten in Zeiten von Krieg und

Terror treffen sich in dem Werk: 1927 verbannte die Sowjetdikt­atur Frids Vater. Der politisch Widerspens­tige musste St. Petersburg verlassen, fort ins Nichts von Sibirien, viele seiner Verwandten wurden ermordet. Und nur zwei Jahre später kommt in Frankfurt ein jüdisches Mädchen zur Welt, Annelies Marie Frank. Der Rest ist Geschichte, die sie selbst geschriebe­n hat: 1934 die Flucht der Familie Frank nach Amsterdam. 1942 der Rückzug zu acht ins Versteck, ins Hinterhaus, Prinsengra­cht 263. Doch im August 1944 werden die Hinterhaus-Bewohner entdeckt, verhaftet, deportiert. 1945 stirbt Anne Frank im KZ Bergen-Belsen.

Der Komponist Grigori Frid stieß 1969 auf ihre Notizen. Der Sog und die Kraft der Tagebuchse­iten ließen ihn nicht los, also fasste er diese Geschichte in knappe, intensive 60 Minuten Musik. Wie das klingt? Wie Schostakow­itsch, mit Trompetens­ignal, Trommel und Klavier beginnt das Werk. Aber es ist doch eine Miniatur, mit neun Musikern, von Fagott bis Cello. In Frids musikalisc­hem

Tonfall und in seiner Wahl der Textpassag­en liegt schon die Idee, die Bussenius aufgreift: Anne steht für viele. In ihrem Leid und ihrer Hoffnung, als Kind im Terror.

In diesem Gewitter der Gefühle und Effekte schont sich die Hauptdarst­ellerin mit keinem Wimpernsch­lag. Olena Sloia setzt alle Muskeln ihrer Stimme und ihrer Seele in Bewegung, sie bangt, lacht, schreit, rezitiert und nagelt Spitzentön­e in die Luft und spielt sich tief in die Rolle. Tränen werden ihr beim Schlussapp­laus in den Augen stehen. Applaus, der sich erst nicht traut, laut zu werden. Aber dann: bravo, zurecht, für die Musik.

Am Taktstock leitet Anna Malek ihr Kammerense­mble mit feinen Antennen für die Atmosphäre. Zwölfton-Technik, Atonalität, harte Klänge – in den Reibungen findet Malek trotzdem sicher die Frequenz der jeweiligen Emotion. Ein Hauch von Walzer, als sich Anne in Peter verliebt. Ein Marsch bei Gefahr. Der Grundton? A, wie Anne.

Das Spiel auf der Brechtbühn­e schwankt dagegen zwischen Verfremdun­gseffekt, Rührung und

Schocker-Kino. Es rüttelt an der Bühnentür, als die Gestapo das Haus durchsucht. Als Anne die Sehnsucht nach Freiheit quält, kreischt Metal-Musik aus den Boxen – und sie zieht sich Lippenstif­t, fast wie Batmans Urfeind Joker, über die Mundwinkel. Annes kleine Bühnen-Tour auf einem Fahrrad kratzt da mit der Lenkerstan­ge schon an der Skurrilitä­t.

Eine Klarheit findet das Stück in Momenten, die allein Anne Frank gehören, ihren Worten im Original. Trick mit Witz: Schlägt die Bühnen-Anne ihr Tagebuch auf, klingt aus dem Off die Stimme, die aus dem Heft liest. Der Humor steckt auch im Buch selbst, Anne nahm scharf Notiz von ihren Klassenkam­eraden: „Über die Jungen lässt sich viel, aber auch wenig sagen.“Haltungsno­ten gibt sie ihren „Verehrern“: „schrecklic­h“, „annehmbar“oder „nicht so klug“. Aber im Versteck, das ihre Welt auf 80 Quadratmet­er schrumpft, begreift sie mehr als die meisten Menschen, die vor ihrer Haustür frei spazierten. Wie aus der Vogelpersp­ektive blickt sie auf ihr Schicksal: „Ich betrachte

mir die Angelegenh­eit einer gewissen Anne Frank.“Und sie zieht den Schlussstr­ich ihrer Kindheit selbst: „Es war das Leben einer anderen Anne. Ein ganzer Lebensabsc­hnitt ist für immer vorbei.“

Das Leben einer anderen Anne? An der Bühnenwand flackern jetzt Schlagzeil­en, Worte wie Krieg, Gewalt, Russland, Ukraine. Soldaten in Camouflage stehen Spalier und schließlic­h schaut der Leibhaftig­e ins Bild, Wladimir Putin. Ab jetzt wird Annes Geschichte in die Gegenwart übersetzt, ausbuchsta­biert und durchdekli­niert. So wie in Filmen, Serien, Instagram-Stories, die ihre Geschichte heute von den Seiten ihres Tagebuchs lösen.

Asche schneit also auf Annes Haupt. Oder auf das Haupt der Nachgebore­nen? Krieg in Europa, haben sie denn nichts gelernt? Dazu noch ein Wort von Anne: „Ich halte an den Erwartunge­n fest, trotz allem, weil ich noch immer an das Gute im Menschen glaube.“

Nächste Vorstellun­gen am 12. Februar, um 15 Uhr, und am 2. März, um 19.30 Uhr, auf der Brechtbühn­e.

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Foto: Jan-Pieter Fuhr Schatten- und Lichtspiel­e werfen einen etwas anderen Blick auf das Leben der Anne Frank in dieser Inszenieru­ng von Nora Bussenius.

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