Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Weltrekord und Sieg: Traumstart für die deutschen Handballer
Gegen die Schweiz startet die Nationalmannschaft perfekt ins Turnier. Vor einer Rekord-Kulisse setzt sich der Gastgeber klar durch und entfacht erste EM-Euphorie.
So richtig einschätzen konnten die deutschen Handballer und deren Trainer Alfred Gislason nicht, wie sie auf die ungewohnte Umgebung reagieren würden. Große Hallen sind sie gewohnt, Spiele vor Tausenden Fans, Enge und hitzige Atmosphäre. Was sich aber die Organisatoren der Europameisterschaft hatten einfallen lassen, war nicht nur neu, es übertraf die Vorstellungskraft. 53.586 Fans bevölkerten am Mittwochabend die Ränge in der multifunktionalen Düsseldorfer Arena und sorgten für einen Weltrekord. Mehr Zuschauer hatten ein Handballspiel noch nie live vor Ort gesehen. Die meisten von ihnen in der Erwartung, dass die Auswahl des Deutschen Handball-Bundes (DHB) erfolgreich ins Turnier startet.
Als sie die Halle am späten Abend verließen, gingen sie glücklich in die Nacht. Deutschland hatte die Schweiz extrem deutlich 27:14 (13:8) bezwungen, hatte sich einen Traumstart in die EM beschert und eine erste Euphorie entfacht. Vor den beiden weiteren Gruppenspielen gegen Nordmazedonien
(Sonntag, 20.30 Uhr/ZDF) und Frankreich (Dienstag, 20.30 Uhr/ARD) lastet nun bedeutend weniger Druck auf dem Team von Gislason. Zumal die Hürde im letzten Gruppenspiel hoch ist. Frankreich zählt zu den Favoriten auf den Titel. Zu spüren bekam die Stärke sogleich Nordmazedonien. Im EM-Eröffnungsspiel waren die Franzosen zunächst holprig unterwegs, siegten am Ende aber locker 39:29 (17:13).
Die letzten Minuten dieser Partie hatten Gislason und seine Spieler einige Meter vom Spielfeldrand entfernt mitverfolgt. Welche Atmosphäre sie selbst erwarten würde, erlebten die DHB-Spieler erstmals um 19.39 Uhr. Mit Klatschpappen, Applaus und Jubel wurden sie im weiten Rund empfangen, ehe sie sich auf dem hellblauen Boden aufwärmten. Von der Eröffnungsfeier und den Tonproblemen, die die Rede des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier danach begleiteten, bekamen sie nichts mehr mit. Da weilten sie längst wieder in der Kabine.
Bundestrainer Gislason hatte vor der Partie davon gesprochen, der Funke müsse von den Spielern auf die Fans überspringen. Doch das schien gar nicht nötig, derart emotional aufgeladen war die Halle. Erstmals entlud sie sich beim 1:0 durch Spielmacher Juri Knorr und der ersten Parade durch Torhüter Andreas Wolff, denen in Deutschlands Mannschaft entscheidende Bedeutung zukommt.
Allen voran Wolff war sogleich auf Temperatur, sechs Würfe hielt er in den ersten zwölf Minuten. Weil nicht nur die Abwehr ihre Arbeit erledigte, sondern zugleich der Angriff Lücken fand und zu Toren nutzte, führten die Deutschen nach einer Viertelstunde mit vier Toren (7:3). Der Schweizer Trainer Michael Suter sah sich zu einer ersten Auszeit gezwungen.
DHB-Kapitän Johannes Golla hatte orakelt, er wisse nicht genau, wie lange es dauern würde, ehe Reaktionen des Publikums auf dem Feld ankämen. Nach 20 Minuten durften er und seine Mitspieler feststellen: ziemlich schnell. Mit jedem Treffer gewannen die Spieler an Sicherheit, brachten sechs Treffer zwischen sich und den Gegner.
Die Schweizer, in deren Reihen mit dem 40-jährigen Andy Schmid eine Bundesliga-Legende mitwirkte, nahmen teils den Torhüter vom Feld, um in Überzahl den Abstand zu verkürzen. Tatsächlich holte die Schweiz ein Tor bis zur Pause auf, weil sich das Gislason-Team in der letzten Minute einen überflüssigen Ballverlust und einen Fehlwurf durch Linksaußen Lukas Mertens erlaubte.
DHB-Sportvorstand Axel Kromer war nach dem ersten Spielabschnitt äußerst zufrieden. „Uns ist ein Stein von Herzen gefallen, wie stabil die Mannschaft aufgetreten ist. Darauf haben wir hingearbeitet.“Beeindruckt zeigte sich der 47-Jährige von der Stimmung in der Halle. „Genau das haben sich die Jungs erhofft. Das ist keine Fußballstadion-Atmosphäre. Die Schweizer merken, dass sie hier in Unterzahl sind.“
In der jüngeren Vergangenheit fehlte der deutschen Mannschaft die Konstanz über die gesamte Spielzeit hinweg. Vor allem mit Verschnaufpausen einiger Leistungsträger war ein Leistungsabfall verbunden. Die Schweiz jedoch verfügte an diesem Abend nicht über Mittel, das Abwehrbollwerk und Schutzschild Wolff zu schädigen. Mitte der zweiten Hälfte baute die deutsche Mannschaft den Vorsprung erstmals auf zehn Tore aus (20:10), der bis zum Ende sogar auf 13 Treffer anwachsen sollte. Besser hätte der Auftakt nicht verlaufen können. derart Außergewöhnliches zuvor angedeutet hätte.
Wer in den Olymp des Sports vordringt, hat die Vorstellungskraft des Irdischen verlassen. Kunst statt Kraft lässt ihn die Schwerkraft bezwingen, er schlägt Kügelchen aus unmöglicher Distanz in winzige Löcher oder tritt Bälle auf unwirklichen Flugbahnen in Tore. Teils erhält er dabei Unterstützung von ganz oben, wie einst Fußballgott Diego Armando Maradona bewies. Nicht von dieser Welt ist zugleich Nachfolger Lionel Messi, dessen Art der Ballbehandlung der Zauberei zuzuordnen ist.
In anderen Sphären schwebte ebenso Franz Beckenbauer. Lange Zeit hielt er sich in einem Raum auf, in dem ihn Unantastbarkeit umgab. Er streichelte Bälle und umtänzelte Gegner in einer surrealen Form, abseits des Rasens umgab ihn eine besondere Aura. Weil Menschen in einer entzauberten Welt für Mythen empfänglich sind, blickten sie ehrfurchtsvoll auf ihre „Lichtgestalt“. Er versetzte Berge, beging aber auch Fehler.
Und jetzt? Sitzt Beckenbauer im Himmel neben Pélé, Maradona und Mozart. Glauben Sie nicht? Dass Tauscher WM-Gold gewinnt, hätten Sie auch nicht für möglich gehalten.