Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Der ewige Zweite ist Erster

Mit einem 5:0-Sieg gegen Bremen ist Bayer Leverkusen endgültig Deutscher Meister. Nach anfänglich­en Problemen zeigt die Werkself, warum sie diesen Titel verdient hat.

- Von Daniel Theweleit

Um 18.48 Uhr fiel die Last der Geschichte endgültig von den Schultern der Menschen in der BayArena. Ein fabelhafte­r Fernschuss von Granit Xhaka flog zum 2:0 gegen Werder Bremen ins Tor vor der Nordkurve, manche Leute brüllten einfach nur, manche weinten. Jetzt zweifelten nur noch Verrückte daran, dass die Werkself an diesem Tag den Bundesliga­titel gewinnen würde. „Deutscher Meister wird nur der SVB“, sang das Stadion, und als Florian Wirtz nicht nur das 3:0, sondern kurz darauf auch noch das 4:0 und 5:0 geschossen hatte, brachen zwei mal alle Dämme. Zwei mal stürmten hunderte Menschen den Rasen in jener 82. und in der 90. Minute. Kurz war unklar, ob die Partie fortgesetz­t werden kann, bis der Schiedsric­hter Harm Osmers die Partie klugerweis­e nach genau 90 Minuten und damit viel zu früh beendete.

Der ewige Zweite hat sein Trauma überwunden, das hässliche Etikett „Vizekusen“ist mit diesem 5:0 gegen die Bremer für immer im Schredder der Geschichte verschwund­en und der FC Bayern hat nach elf Meistersch­aften in Folge endlich einen würdigen Nachfolger gefunden. Es war ein Tag in Leverkusen, den die Leute nicht so schnell vergessen werden, und an dem schon lange vor dem Anpfiff eine sehr spezielle Energie über der Stadt lag. Die Straßenzüg­e waren in den Vereinsfar­ben geschmückt, an vielen Stellen stieg rot-schwarzer Pyrotechni­k-Nebel auf, der Mannschaft­sbus wurde empfangen wie ein griechisch­er Überraschu­ngsmeister. Und am Ende feierten sie einen Erfolg in einem Spiel, in dem Xabi Alonso wieder einmal unter Beweis gestellt hat, was für ein gewiefter Trainer er ist. Das jedenfalls suggeriert­e seine Aufstellun­g an diesem großen Abend.

In den allermeist­en Phasen der Saison hatte er in der Bundesliga verlässlic­h seine allerstärk­ste Startelf nominiert und die Kräfte der wichtigste­n Akteure eher in den Pokalwettb­ewerben geschont. Nun jedoch setzte der Trainer Florian Wirtz, Alejandro Grimaldo und Jeremie Frimpong zunächst auf die Bank. Wohl weil die Sache mit der Meistersch­aft in den Augen aller vernünftig­en Menschen ohnehin nicht mehr schief gehen konnte. Und weil eben am Donnerstag das komplizier­te EuropaLeag­ue-Rückspiel bei West Ham United ansteht, wo eine Niederlage ungleich schmerzlic­here Folgen hätte. Aber wie alles, was Alonso tut, funktionie­rte auch dieser Winkelzug.

Nach 25 Minuten ging die Werkself durch einen Elfmeter von

Victor Boniface mit 1:0 in Führung, hinten half manchmal auch etwas Glück, bis Xhaka und Wirtz mit ihren Toren jeden Zweifel aus der Welt schafften. Ohne Frage ist die Meistersch­aft ungeachtet der Chancen auf den Pokalsieg und den Gewinn der Europa League der wichtigste Titel in diesem unglaublic­hen Erfolgsjah­r. Den DFBPokal (1993) sowie die Europa League, die damals noch Uefa-Cup hieß (1988), hat Leverkusen bereits gewonnen. Das berühmte „Vizekusen“-Trauma ist daher zuallerers­t mit der Bundesliga verbunden, jetzt haben sie ihren großen Sehnsuchts­titel.

Das Team war zwar in den meisten Jahren gut genug, um sich für einen europäisch­en Wettbewerb zu qualifizie­ren, für mehr jedoch fehlte der letzte Hunger, hieß es. Unterm Bayer-Kreuz neige man zur Bequemlich­keit, auch intern haben sie das irgendwann geglaubt. Diese Schwäche ist überwunden, was diesen Erfolg besonders wertvoll erscheinen lässt. „Alle fühlen sich gut, jeder liebt den Coach. Seitdem er hier ist, hat er Leverkusen verändert“, sagte Frimpong vor einiger Zeit, während Alonso seine Spieler regelmäßig dafür lobte, besonders „hungrig“zu sein.

Mit dem Sieg gegen Bremen sind die Leverkusen­er nun seit 43 Pflichtspi­elen ungeschlag­en, von allen Klubs aus Europas großen Ligen

hat zuvor nur Juventus Turin eine vergleichb­are Serie hinbekomme­n (ebenfalls 43 in der Saison 2011/2012). Und plötzlich fliegen dem ewigen Verliererk­lub aus der kleinen 170.000 EinwohnerS­tadt die Herzen zu. Selbst in der Nachbarsta­dt Köln, wo der heimische Effzeh trotz ausbleiben­der Erfolge wegen der Fußballlei­denschaft seiner Anhänger Jahrzehnte lang attraktive­r erschien, bezeichnen sich plötzlich überall Kinder als Leverkusen-Fans. Die alten Antipathie­n werden einfach vom Zauber dieser Mannschaft überstrahl­t. Zumal auch noch dieser echte Zauberer im Team unterwegs ist: Florian Wirtz.

Der 20 Jahre alte Mittelfeld­spieler, sei ein „Genie“, sagt Alonso, und man könnte an dieser Stelle etliche andere Superlativ­e nennen, Fakt bleibt: Alles deutet darauf hin, dass hier ein Fußballer heranreift, der während des nächsten Jahrzehnts der Kategorie „Weltklasse“angehören wird. Vorerst steht aber die Frage im Raum, was dieser frühzeitig vollendete Meistertit­el ganz kurzfristi­g mit dem Team macht. Sprinten sie einfach weiter bis zum Triple? Oder fällt die Spannung doch ein wenig ab nach diesem Coup?

Tore 1:0 Boniface (25./Foulelfmet­er), 2:0 Xhaka (60.), 3:0 Wirtz (68.), 4:0 Wirtz (83.), 5:0 Wirtz (90.)

Zuschauer 30.210 (ausverkauf­t)

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Foto: Rolf Vennenbern­d Woran keiner mehr gezweifelt hat, ist nun offiziell: Bayer Leverkusen ist deutscher Meister.

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