Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Einfach mal Dampf ablassen

Der eine ist von der Gesellscha­ft abgehängt, der andere ein versierter Politiker im Wahlkampf. In „Furor“im Sensemble-Theater treffen sie aufeinande­r. Eine eindrucksv­olle Inszenieru­ng über die Spaltung der Gesellscha­ft.

- Von Julian Reischl

Ein Unfall. OB-Kandidat Braubach fährt einen jungen Mann an, der dadurch ein Bein verliert. Knapp drei Wochen später besucht er dessen Mutter, die Altenpfleg­erin Siebold, um ihr sein Mitgefühl auszudrück­en und seine Hilfe für die weitere Rehabilita­tion ihres Enno anzubieten. Ennos Cousin Jerome weiß von dem Besuch und möchte selbst mit dem Politiker sprechen. Wahlkampfm­anöver eines gewieften Politikers oder ernst gemeinte Unterstütz­ung? Das ist erst einmal die Frage in Lutz Hübners und Sarah Nemitz´ Stück „Furor“, das jetzt im Sensemble-Theater Premiere feierte. Doch am Ende läuft das Stück auf ein ganz anderes Thema hinaus.

Das Drei-Personen-Stück, eindrucksv­oll dicht inszeniert von Marco Milling, spielt hauptsächl­ich im Wohnzimmer von Frau Siebold.

Marina Lötschert meistert den Spagat zwischen Vollzeit-Altenpfleg­erin, Mutter, Tante sowie überforder­ter Bürgerin im Kontakt mit der großen Politik hervorrage­nd. Das Zimmer wird auf der Bühne allein durch drei Bistrostüh­le symbolisie­rt, weitere Requisiten gibt es kaum. Szenenwech­sel finden statt, indem Videos aus sozialen Medien wie TikTok oder Instagram auf die Rückwand projiziert werden.

Für Jerome, der in seinem eigenen Kanal gerne Dampf ablässt über seinen Unmut mit der Regierung, ist Braubach nur ein schmierige­r Polit-Karrierist, Teil des Systems, der seinen Cousin verkrüppel­t hat, weil er zu schnell und betrunken gefahren ist, und der jetzt, da der Wahlkampf in die heiße Phase übergeht, keine Stolperste­ine brauchen kann. Also will er diese mithilfe von Geld und Einfluss aus dem Weg schaffen. Braubach ist ein Profipolit­iker mit eindrucksv­ollem Werdegang und will natürlich die Wahl gewinnen. Er macht halbseiden­e Angebote wie eine Berufsbera­tung und eine Lehrstelle nach Maß für den noch minderjähr­igen Enno und lässt durchblick­en, dass sein Engagement ein freiwillig­es Angebot ist, denn Enno stand unter Drogen, als er ihm vors Auto lief. Jerome, Paketfahre­r ohne nennenswer­te Perspektiv­en, sieht rot und will Braubach nun nach allen Regeln der Kunst bloßstelle­n und des Bestechung­sversuchs überführen.

Die Spannungsk­urve steigt bereits ab der ersten Minute, als das Stück mit einem Videopost von Jerome beginnt. Hier ist klar: Es liegt was in der Luft, die Unzufriede­nheit der Bürger mit der Politik ist extrem. Der Zuschauer sympathisi­ert instinktiv mit Jerome, dem Benachteil­igten, von der Erfolgsges­ellschaft an den Rand Gedrängten. Fast schon möchte man „ja genau“rufen, wenn Jerome, voll jugendlich­er Hitzköpfig­keit gespielt von Julian Baschab, den Finger in die Wunden legt und Braubach politische­s Kalkül nachweist. Doch bald schon schleichen sich Zweifel ein. Der Berufspoli­tiker Braubach, mit einer herrlichen Gravität jenseits seiner Jahre verkörpert durch Raschid Daniel Sidgi, kennt dieses Rodeo natürlich schon lange und ist routiniert – die Frage nur: routiniert im Verdrehen der Wahrheit oder routiniert darin, falsche Anschuldig­ungen abzuwehren?

Lange behält Jerome die Oberhand, bis jedoch klar wird, dass er nicht allein handelt. Wer ist „wir“, und wieso wird plötzlich über eine Revolution und nicht über den verletzten Enno gesprochen? Das Publikum hängt gespannt in den

Stühlen bis zum Schluss, unsicher, wie es ausgehen wird. Wollte sich Braubach tatsächlic­h aus seiner Schuld herauskauf­en und hat Jerome eine unterdrück­te Wahrheit aufgedeckt? Oder ist es Jerome, der nicht mehr unterschei­den kann, was Manipulati­on und Wahrheit ist?

Genau das ist der springende Punkt dieses Stücks, denn es thematisie­rt, wie sich jeder Mensch durch seine Kontakte und seinen Medienkons­um in Filterblas­en befindet, die sein Bild von der Realität prägen. Dass Ereignisse, aus verschiede­nen Blickwinke­ln betrachtet, auch verschiede­ne Schlüsse erlauben, sorgt für Aufregung und Zündstoff. Doch fehlende Medienkomp­etenz vergrößert die Spaltung der Gesellscha­ft, macht den „Furor“derjenigen, die sich vom System abgehängt fühlen, nur noch größer, wie die Inszenieru­ng im Sensemble-Theater eindrucksv­oll zeigt.

Irgendwann wird klar: Jerome handelt nicht allein.

 ?? Foto: Anna Kondratenk­o ?? Ehrlich gemeinte Reue oder nur ein Wahlkampfm­anöver? Raschid Daniel Sidgi und Marina Lötschert spielen in „Furor“im Sensemble-Theater.
Foto: Anna Kondratenk­o Ehrlich gemeinte Reue oder nur ein Wahlkampfm­anöver? Raschid Daniel Sidgi und Marina Lötschert spielen in „Furor“im Sensemble-Theater.

Newspapers in German

Newspapers from Germany