Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Wer waren die Menschen auf dem Lechfeld im frühen Mittelalter, Herr Fehr?
Waren Augsburg und sein Umland schon seit dem Abzug der Römer in der Spätantike eine alemannisch-schwäbische Region? Wohl nicht, sagen neue Forschungen.
Landkreis Augsburg Das Glas, das Hubert Fehr in der Hand hält, sieht aus, als stamme es aus den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts. Ein wenig altmodisch in Form und Farbe, aber völlig klar und ohne jegliche Glaskorrosion. Wahrscheinlich hat es jemand weggeworfen, weil ein Stückchen herausgebrochen ist. So scheint es auf den ersten Blick. Hubert Fehr, an der Außenstelle Thierhaupten des Amts für Denkmalpflege als Referatsleiter tätig, weiß es besser: Das Glas ist rund 1400 Jahre alt und hat wohl bald ebenso lange in der Erde gelegen. Es erzählt, wie die Menschen zu dieser Zeit, im frühen Mittelalter, im heutigen Landkreis Augsburg gelebt haben. Archäologische Funde wie das grüne Glas helfen dabei, das Ende der römischen Herrschaft im fünften Jahrhundert heute anders zu beurteilen, als das noch vor 20 Jahren der Fall war.
Die eigene Herkunft: Für viele Menschen ist es Teil der Identität, zu wissen, wer die eigenen Eltern sind, woher die Großeltern kamen oder von wo die Urgroßeltern zugewandert waren. Hubert Fehr, promovierter Archäologe mit Schwerpunkt in Ur- und Frühgeschichte, Provinzialrömische Archäologie sowie Mittelalterliche Geschichte, blickt in seiner Arbeit viel weiter zurück. Fast 50 Generationen sind vergangen, seit das grüne Glas in der Erde gelandet ist. Aus heutiger Sicht es ist ein wichtiger Fund, der viel über die Lebenswirklichkeit der Menschen damals aussagte. Doch diesen Fokus auf den Alltag der Menschen gibt es in der Geschichtswissenschaft noch gar nicht so lange.
Kriegerische Auseinandersetzungen, starke oder schwache Herrschergestalten, Nationen, die sich aus einer Unterdrückung befreien und gestärkt zusammenstehen – solche Narrative haben die Geschichtswissenschaft lange Zeit geprägt. „Dieses Bild ist hauptsächlich im 19. Jahrhundert entstanden, als in Europa, auch in Deutschland, der Wunsch nach Nationalstaaten entstand. Eine Argumentationshilfe für diese Staaten sollte sein, dass die jeweiligen Nationen schon lange existierten und ihren Wunsch nach Einheit nun endlich umsetzen wollten.“Eine These aus dieser Zeit ist, dass der Lech bei Augsburg schon seit dem Ende der Spätantike die Grenze zwischen einem als Schwaben oder damals Alemannen genannten Volk auf der westlichen und den Baiern auf der östlichen Seite gebildet hat. „Doch das stimmt so nicht für das frühe Mittelalter. In diesem Narrativ spiegelt sich das Wunschdenken der damaligen Zeit wider“, sagt Hubert Fehr.
Zurück zu dem grünen Glas. Es ist in einer Zeit entstanden, die lange aus der Sicht der Geschichtswissenschaft wie ein Vakuum wirkte. Generell wird das Ende der Spätantike im fünften Jahrhundert gesehen, die Zeit ab dem sechsten Jahrhundert bezeichnet man als Frühmittelalter. Aus dieser Zeit gibt es nicht allzu viele schriftliche Quellen und diese lassen kein komplettes Bild über das damalige Leben zu. Klar ist: Das alte Rom, das für die Gründung
Augsburgs als Stadt verantwortlich war, gab es nicht mehr. Die Truppen hatten die Provinz Raetien längst verlassen. In der durch das 19. Jahrhundert geprägten Geschichtswissenschaft war man lange davon ausgegangen, dass in dieser Zeit ein germanischer Stamm, die Alemannen, das mehr oder weniger wüst zurückgelassene Land neu besiedelte, ihre eigene Kultur mitbrachte und weiterentwickelte.
Das Glas berichtet jedoch eine andere Geschichte. Es ist eine von einer Zeit ohne wesentliche Brüche in jenen kulturellen Zügen, die bereits während der Römerherrschaft erkennbar sind. Hubert Fehr erläutert in diesem Zusammenhang, dass die Qualität des Glases und auch die Analyse der Zusammensetzung den Schluss erlaubt, dass die Glasrohmasse aus dem östlichen Mittelmeerraum stammt, eventuell aus Ägypten. Verarbeitet wurde die Rohmasse dann im Rheinland oder in Belgien, wo es damals entsprechend ausgebildete Handwerker gab. Daneben zeigen Funde von Granat-Edelsteinen in Schmuckstücken, dass es im siebten und achten Jahrhundert stabile und weitläufige Fernverbindungen im Handel bis nach Indien gab.
All das spreche nicht dafür, dass sich zu dieser Zeit eine neue Kultur mit neu zugezogenen Bewohnern erst etablieren musste, so Hubert Fehr. Stattdessen gehe man heute davon aus, dass auch nach dem offiziellen Abzug der römischen Herrscher zumindest teilweise dieselben Menschen wie zuvor rund um Augsburg gelebt haben: die Vorbevölkerung der Lechebene, vermischt mit römischer Provinzialbevölkerung, die zumindest teilweise auch nach Ende des Römischen Reiches im vorherigen Raetien wohnen geblieben war – und auch Zuwanderer aus der gesamten damaligen Welt. Als Alemannen oder Baiuwaren hätten sich die Menschen damals sicher noch nicht gefühlt. Das ändert sich allerdings später, etwa um das Jahr 700, so Hubert Fehr. Ab dann werde der Lech tatsächlich zur Grenze.
Einend sei da schon eher die gemeinsame Kultur gewesen, vermuten Historikerinnen und Archäologen heute. Dass sich die Menschen damals als Nation oder Volk gesehen hätten, sei aus den Quellen nicht zu belegen. Apropos Quellen: Da sind neue Erkenntnisse in Zukunft primär aus der Archäologie zu erwarten. Während schriftliche Quellen aus dem frühen Mittelalter inzwischen umfassend ausgewertet seien, ist das bei archäologischen Funden anders. Weil gerade durch Baustellen immer neue Funde auftauchen, geht Hubert Fehr davon aus, dass es auch in Zukunft neue und weiterführende Erkenntnisse über das frühe Mittelalter geben wird.
Schon jetzt ließe sich jedoch durch die vielen Grabfunde ziemlich gut sagen, wie die Menschen im heutigen Landkreis Augsburg damals gelebt hätten: in einem bäuerlichen Umfeld, aber eher wohlhabend als arm. Viele der Skelette waren groß, die Ernährung somit gut, die Grabbeigaben reichlich. Und dann kommt er doch noch durch, der Mythos des dunklen Zeitalters Mittelalter, wo inzwischen so viel Licht herrscht: „Es scheint zudem eine recht gewalttätige Gesellschaft gewesen zu sein. Viele Skelette weisen Verletzungen auf, andere sind mit Schwertern oder anderen Waffen begraben worden“, sagt Hubert Fehr.
Fernverbindungen im Handel reichten bis nach Indien.