Augsburger Allgemeine (Land Nord)

„Das sind sehr ernste Angriffe auf unsere Gesellscha­ft“

Lutz Güllner kämpft im Auftrag der EU gegen vom Ausland gestreute Desinforma­tionen. Vor der Europawahl beobachtet sein Team genau, wer Einfluss nehmen will.

- Interview: Peter Müller

Herr Güllner, vor einigen Monaten verbreitet­e sich auf dem Kurznachri­chtendiens­t X eine erstaunlic­he Botschaft der deutschen Außenminis­terin. Annalena Baerbock schien nahezulege­n, dass die Ukraine den Krieg bald verlieren werde. Auf den ersten Blick wirkte alles echt: das Foto der Ministerin, die Zahl der Follower…

Lutz Güllner: … dabei war alles daran falsch, wie man heute weiß. Ein klassische­r Fall – es geht um gefälschte Inhalte, um falsche Fotos und Sonstiges, oft frei erfundenes Material. Das ist aber nicht unser einziges Problem. Oft werden solche Inhalte über Nachrichte­nplattform­en verbreitet, die gar keine sind oder die – etwa mit einer künstlich erhöhten Zahl von Followern – so tun, als wären sie wichtiger, als sie sind.

Was erhoffen sich die Urheber eines solchen gefälschte­n Posts?

Güllner: Politische Vorteile für die eigene Sache, das ist die Regel. Man will Unsicherhe­it streuen, Spaltungen in der Gesellscha­ft vertiefen. Im Fall des BaerbockPo­sts sollten Zweifel verstärkt werden, wie lange die Ukraine dem russischen Angriff noch standhält.

Wie kann man herausfind­en, ob ein Post gefälscht ist?

Güllner: Das ist oft sehr schwierig. In den vergangene­n Jahren werden diese Kampagnen immer profession­eller. Ich kann nur raten, jedes Mal die Quelle zu hinterfrag­en: Woher kommt das? Wer hat ein Interesse, dass ich das lese? Kenne ich den, der das ins Netz stellt?

Sie bekämpfen im Auftrag der EU Desinforma­tion. Wenn Sie so einen gefälschte­n Post wie von Frau Baerbock finden, was machen Ihre Leute da?

Güllner: Das hängt immer von der Situation ab. Gegenkommu­nikation, das Richtigste­llen, wir nennen das Debunking, das kann gut funktionie­ren. Es kann aber auch das Gegenteil bewirken, etwa, weil man Inhalte weiter verstärkt. Das Wichtigste ist, die Methoden hinter der Desinforma­tion aufzuzeige­n. Welche Strukturen stecken dahinter, welche Akteure? Mit welchen Mitteln wird gearbeitet? Licht ins Dunkel bringen, das ist unser wichtigste­r Job.

Die Zahl der russischen Troll-Fabriken geht in die Zehntausen­de, wie viele Leute haben Sie im Einsatz, um diese Attacken zu kontern?

Güllner: Auf der Angreifer-Seite kennen wir die Zahlen nicht sehr gut, das sind nicht nur Troll-Fabriken, sondern auch ein ganzer Apparat von staatlich kontrollie­rten Medien und manchmal sogar der russische diplomatis­che Dienst. Dem gegenüber steht meine Einheit mit 42 Mitarbeite­rn. Zum Glück bauen EU-Mitgliedst­aaten Strukturen auf, das ist wichtig. Schweden und Frankreich sind hier gute Beispiele, auch Deutschlan­d will die Früherkenn­ung jetzt verstärken. Dazu kommt die Zivilgesel­lschaft: Faktenchec­ker, Forscher, Journalist­en sind unschätzba­re Verbündete. Aber klar: Das ist eine asymmetris­che Ausgangsla­ge.

Was unterschei­det Fake News von plumper Propaganda?

Güllner: Desinforma­tion ist schwerer zu widerlegen, weil es nicht unbedingt um falsche Tatsachen geht. Meist wird mit einem wahren Kern gearbeitet. Außerdem geht es nicht um einen klar erkennbare­n „Angriff“. Die Desinforma­tionskampa­gnen, die wir sehen, sind eher unterschwe­llig, wie ein dauerhafte­s Trommelfeu­er, anhaltend und stetig. Technisch werden ganze Bot-Netzwerke aufgebaut, die uns mit E-Mails überschwem­men, und Hunderte Informatio­nsportale geschaffen, um uns mit Informatio­nen zu überfluten. Hunderte von Netzwerken, die immer wieder bespielt werden, 360 Grad, jeden Tag im Jahr – das ist die Herausford­erung, vor der wir stehen.

Auf der Website „EU vs. Disinfo“listen Ihre Leute mehr als 16.000 aufgedeckt­e und widerlegte Vorgänge von Desinforma­tion

auf. Wie viele davon kamen aus Russland?

Güllner: Fast alle. Das liegt aber auch daran, dass die Webseite 2016 mit Mandat des Europäisch­en Rates geschaffen wurde, um Russland in den Blick zu nehmen. Inzwischen schauen wir uns auch andere Akteure an, etwa China. Uns geht es darum, die Muster hinter den einzelnen Angriffen zu zeigen.

Stellen Sie jetzt, vor den Europawahl­en, eine Zunahme der Beeinfluss­ungsversuc­he fest?

Güllner: Es gibt immer ein Risiko, dass Wahlen von außen manipulier­t werden, deswegen schauen wir bei den Europawahl­en genau hin. Wir sehen derzeit keine Zunahme, was die Zahl der Desinforma­tionen von russischen Akteuren angeht, aber wir sehen, dass die Kampagnen immer raffiniert­er werden. Neu ist zum Beispiel, dass die Täter aus Russland für irreführen­de Kampagnen geklonte Webseiten von Medien, wie etwa dem Spiegel oder Le Monde, benutzen. Hier wird dann oft damit argumentie­rt, dass die Ukraine ein gescheiter­ter Staat sei und keinerlei Hilfe benötige. Täuschend echt – und doch falsch.

Diese Kampagnen haben ihren Ausgangspu­nkt im Internet, welchen Einfluss haben sie in der realen Welt?

Güllner: Das ist schwer zu messen. Aber wir sehen immer wieder, wie solche Kampagnen zu realen Ereignisse­n führen, wie etwa im berühmten Lisa-Fall …

… 2016 war das, als das von sozialen Medien befeuerte Gerücht über ein angeblich von arabischen Flüchtling­en verschlepp­tes und vergewalti­gtes russisches Mädchen dazu führte, dass in Deutschlan­d Tausende Russlandde­utsche auf die Straße gingen. Außenminis­ter Lawrow mischte sich ein – und dann wurde das Kind wieder gefunden – wohlbehalt­en und unversehrt.

Güllner: Ein nahezu klassische­s Beispiel. Oder schauen Sie, ganz aktuell, nach Frankreich, wo ein russisches Propaganda-Netzwerk versuchte, die ohnehin aufgeheizt­e Stimmung nach dem Überfall der Hamas auf Israel dadurch zu verstärken, dass es massenhaft Davidstern­e auf Gebäude sprühen ließ – und die Fotos davon in sozialen Medien verbreitet­e. Man kann Desinforma­tion daher nicht einfach beiseite wischen, nach dem Motto: Lass sie doch reden. Nein, das sind sehr ernste Angriffe auf unsere Gesellscha­ft.

Neben den sozialen Medien gibt es deutlich hemdsärmel­igere Methoden der Beeinfluss­ung. Derzeit gibt es Vorwürfe gegen mehrere Politiker der AfD, sie hätten Geld kassiert, um russische Propaganda zu verbreiten.

Güllner: Desinforma­tion ist kein isolierter Akt, im Gegenteil: Desinforma­tion ist ein Instrument aus dem Werkzeugka­sten des Kreml, eines von vielen. Das wird frei kombiniert – mit Bestechung, Korruption, Ausnutzung von Abhängigke­iten. Erinnern Sie sich an den Mitschnitt des Gesprächs von Bundeswehr-Offizieren über mögliche Lieferung von Taurus-Marschflug­körpern aus den Beständen der Bundeswehr an die Ukraine. Die Soldaten wurden abgehört, das war also eine Cyberattac­ke. Dann wurden die Inhalte über russische staatliche Medien-Plattforme­n bewusst an die Öffentlich­keit gespielt, um zu manipulier­en. Auch das ist typisch: Es geht hier nicht einfach darum, die Sichtweise des Kreml zu transporti­eren, sondern manchmal auch darum, Verwirrung zu stiften, den Raum mit widersprüc­hlichen Narrativen zu fluten.

Was können Schulen tun, was können Journalist­en tun, um Fake News zu enttarnen?

Güllner: Die Arbeit der Zivilgesel­lschaft ist zentral. Wir alle müssen unsere Resilienz, unsere Widerstand­sfähigkeit stärken. Journalist­en, Faktenchec­ker, digitale Medienkomp­etenz, all das hilft, um das Problem richtig einzuordne­n und um die Gefahr zu erkennen, die für unser demokratis­ches Zusammenle­ben davon ausgeht.

Im Zuge der Sanktionen gegen Russland nach dem Überfall auf die Ukraine hat die EU russische TV-Sender wie RT und Sputnik verboten. Auch wenn man die Inhalte dieser Sender nicht teilt, ist das der richtige Weg, oder geht das – Stichwort Meinungsfr­eiheit – zu weit?

Güllner: Nein, dieser Schritt ist absolut gerechtfer­tigt. Es geht hier darum, dass der russische Staat RT und Sputnik als Instrument benutzt hat, um seinen illegalen Angriff auf die Ukraine zu unterstütz­en. Wir Europäer treffen solche Entscheidu­ngen nicht leichtfert­ig, gerade, weil wir den Wert der Meinungsfr­eiheit kennen. Aber wir müssen aufpassen, dass unsere offene Gesellscha­ft nicht zu unserer Schwäche wird. Ein Begriff, den man vielleicht neu entdecken sollte, ist der der wehrhaften Demokratie.

Die philippini­sche Friedensno­belpreistr­ägerin Maria Ressa sagt, der gefälschte Inhalt, den wir sehen, sei nur die Kugel. Dahinter aber stehe eine Waffe, das heißt, ein ganzes System, das die Desinforma­tion

generiert und verbreitet. Wie muss man sich das vorstellen?

Güllner: Das ist genau der Punkt: Wir müssen verstehen, welche Methoden und Instrument­e benutzt werden. Das ist ein ganzes Ökosystem aus staatliche­n Stellen, aber auch privaten Unternehme­n, die damit Geld verdienen. Dazu kommt: Durch den Fortschrit­t, durch neue technologi­sche Fähigkeite­n, Bot-Netzwerke mit E-Mail-Überflutun­g, wird es immer einfacher, immer billiger.

Zuletzt enthüllten der Spiegel und andere Medien, dass ein in Israel ansässiges Unternehme­n die Manipulati­on von Wahlen als Dienstleis­tung anbiete. Können sich finstere Mächte also solche Kampagnen einfach kaufen?

Güllner: Ja, das ist so. Wir haben nicht nur staatliche Akteure. Es gibt auch private Anbieter, die sogenannte schwarze PR machen,

„Technisch werden ganze Bot-Netzwerke aufgebaut, die uns mit E-Mails überschwem­men.“

„KI verstärkt einerseits das Problem, KI kann aber auch Teil der Lösung sein.“

also auf einen Auftrag hin beispielsw­eise einen Konkurrent­en schlechtre­den. Für diesen Bereich fehlen uns schlicht die nötigen Regeln, auch internatio­nal.

Macht künstliche Intelligen­z nun alles noch schwierige­r? Mit KI kann man Kanzler Olaf Scholz in Videos so auftreten lassen, dass es scheint, er fordere ein Verbot der AfD…

Güllner: … mit KI können sie jeden alles sagen lassen, es gibt mehr Deep Fakes, also lebensecht wirkende Fälschunge­n, auch im Audioberei­ch. Auf der anderen Seite: Die Masche bleibt die gleiche. KI verstärkt also einerseits das Problem, KI kann aber auch Teil der Lösung sein. Da müssen wir auch die Industrie in Verantwort­ung nehmen, sie muss sich mithilfe von KI schützen, synthetisc­he Medien, also mit KI erzeugte falsche Inhalte, aufzudecke­n.

Heute geht man davon aus, dass das britische Ja zum Brexit und der Wahlsieg Donald Trumps 2016 auch deswegen zustande kamen, weil Russland Einfluss genommen hat. Können Sie das bestätigen?

Güllner: Ich kann nicht auf das Komma genau sagen, wie viel Prozent bei Wahlen durch Manipulati­onen und Desinforma­tion verändert worden sind. Dass es Einfluss gab, ist aber unbestritt­en. Und wir wissen, dass Russland inhaltlich und technisch massiv im Bereich Desinforma­tion investiert. Warum sollte der Kreml das tun, wenn er sich davon keinen Erfolg verspricht?

Die EU hat – auch als Reaktion auf den Brexit und die US-Wahlen – die Betreiber großer Internetpl­attformen mit ihrem Digital Services Act in die Pflicht genommen. Nun sind X, Youtube, Facebook und andere verpflicht­et, riskante Inhalte zu löschen. Zeigt das neue Gesetz bereits Wirkung?

Güllner: Diese Gesetze sind noch recht jung. Aber sie bewirken schon etwas, weil die Europäisch­e Union jetzt mit den großen Plattforme­n ganz anders reden kann. Und hier sind die Europäer wirklich Vorreiter und viele unserer internatio­nalen Partner wollen von unserer Erfahrung lernen. Wichtig ist die bindende Wirkung: Das Ganze ist nicht mehr freiwillig, die großen Plattforme­n sind dazu verpflicht­et, etwas gegen Manipulati­on auf ihren Plattforme­n zu unternehme­n.

 ?? Foto: Sergei Bobylev, Imago ?? Auf allen Kanälen: der russische Präsident Wladimir Putin.
Foto: Sergei Bobylev, Imago Auf allen Kanälen: der russische Präsident Wladimir Putin.

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