Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt (21)
Roman von Iris Wolff
Vier Generationen umfasst die Geschichte einer deutschstämmigen Familie aus dem Banat, an der die Zeitereignisse ihre Spuren hinterlassen, die aber doch einen zentralen Bezugspunkt kennt: den dörflichen Pfarrhof. Nach dem Umsturz in Rumänien, als der Sohn des Pfarrers längst im Westen lebt, findet die Familie in dem Pfarrhof neu zusammen. © 2020 Klett-Cotta, Stuttgart
Die Wolle vertrug keine extremen Temperaturschwankungen, Verfilzung durch übermäßige Reibung musste vermieden werden. Darüber hinaus sollte im Waschvorgang etwas von dem Wollfett erhalten bleiben.
Karlines Vater hatte einen Finger an seine erste Maschine verloren, zwei weitere Finger an seine zweite. Es war eine Kunst, die richtigen Abläufe, Einstellungen, Geschwindigkeiten zu finden, denn das Haarkleid der Schafe war von
Höhenlage und Temperatur abhängig, von Ernährung und Haltung der Tiere, und hatte (wie bisweilen auch Menschen) eine stets variable Filzneigung. Böhmische Meskizenwolle brauchte andere Einstellungen als ungarische Zackelwolle oder türkische Karamanwolle.
Karlines Mutter bat ihren Mann, mit dem Experimentieren aufzuhören, denn nach der sich abzeichnenden Gesetzmäßigkeit wären beim nächsten Mal drei Finger fällig. Die Maschine, die er schließlich entwickelte und patentieren ließ, ähnelte immer noch der Leviathan, die es seit achtzehnhundertdreiundsechzig gab.
Sie bestand aus einer Waschkufe, in der die vorsortierte Wolle durch eine rotierende Trommel untergetaucht und im Becken hinund hergeschoben wurde, während eine Gabel rhythmisch in die Wolle stach. Doch während bei der Leviathan ein Rechen die Wolle aus der Kufe hob, um sie in eine neue Waschkufe zu transportieren, dann in eine dritte, möglicherweise vierte, lief der Waschvorgang in der von Karlines Vater entwickelten Maschine in einer einzigen Kufe ab. Das Wasser wurde so lange abgesaugt und nachgefüllt, bis die Wolle sauber war und an der Luft getrocknet werden konnte. Dieses platzsparende Waschsystem ermöglichte die Eröffnung zahlreicher kleiner Betriebe, was viel bedeutete in einem Land, in dem mehr Schafe als Menschen lebten.
Der Vertrieb der „Alles-in-einem-Kufe“hatte, zusammen mit der Spezialisierung auf die Reinigung seidenartiger Lammwolle in einem Betrieb in Heltau, für den Wohlstand der Familie gesorgt. Mit seinen verbliebenen sieben Fingern hatte Karlines Vater eine Villa in der Oberstadt gekauft, das Möwenhaus am Schwarzen Meer und eine Cabana auf der Hohen Rinne – was dazu führte, dass sich bei seinen Töchtern jedes Mal, wenn sie eine Schafherde sahen, ein nicht näher zu bestimmendes
Wohlgefühl einstellte, zwischen Rührung, Melancholie und Dankbarkeit. Diese Empfindung hatte sich bei Karline im Laufe der Jahre auch auf den Anblick der Wolken ausgedehnt. Wenn sie die Entmutigung ankam, genügte eine dahinfliegende Wolkenformation, um sie zu trösten.
Wer wollte bestreiten, dass es da Ähnlichkeiten gab?
Karline nahm eine Berührung wahr und hob den Kopf. Der Junge war an den Rand der Matratze gerückt, seine Hand lag auf ihrer Schulter.
„Schafe also“, sagte er und wartete, dass sich die Schafe in ihrer Erinnerung verflüchtigten, eines nach dem anderen, so, wie sich Wolken an einem Sommerhimmel auflösten.
Es war Ende Juni, drei Wochen nach ihrer Ankunft, als das Passagierschiff „Transilvania“im Hafen von Constant¸ a anlegte. Da Karlines Vater mit der Werft „Burmeister & Wain“in Dänemark geschäftliche Beziehungen unterhielt – die Teppiche
auf der „Selandia“, dem ersten hochseetauglichen Motorschiff der Welt, waren aus Heltauer Lammwolle gewebt –, durfte die Familie es zwischen zwei Fahrten besichtigen. Vierhundertzwölf Passagiere fanden auf dem Schiff Platz, das für Kreuzfahrten im Schwarz-, Mittel- und Roten Meer eingesetzt wurde.
Der Seegang war stark, das Radio gab eine Sturmwarnung durch.
„Vine furtuna“, der Sturm kommt, sagten die Fischer.
Dessen ungeachtet hatten die Schwestern darauf gedrängt, das Schiff zu besichtigen. Es lag schließlich im Hafen, fest vertäut, kentern würde es sicher nicht, und etwas Besseres für einen Schlechtwettertag ließ sich kaum denken. Nur Karlines Mutter blieb zu Hause, da sie sich unwohl fühlte oder dies zumindest vorgab, um ihre Ruhe zu haben.
Zuerst sahen sie sich das Oberdeck an, von dem aus man den einzigen Hochseehafen Rumäniens überblicken konnte sowie die
Landzunge mit dem ältesten Teil der Stadt.
Man sah das an der Piat¸a Ovidiu, errichtet neunzehnhundertzehn auf Geheiß König Carols des Ersten (königliche Episoden waren Karline immer bekannt), und das im gleichen Jahr erbaute Casino an den Klippen. Ende des neunzehnten Jahrhunderts hatte auch die deutsche Gemeinde eine Kirche erhalten, zudem eine Schule, die einzige evangelische in der ganzen Dobrudscha – aber jene sah man von hier aus nicht. Auf der anderen Seite der Reling lag die Kaimauer, dann das offene Meer. Marie beugte sich ausgelassen über das Geländer und pfiff ein Lied, was der bärtige Lipowaner, der ihnen als Ivan vorgestellt worden war, barsch unterband.
Ob sie nicht wisse, dass das Pfeifen auf einem Schiff verboten sei. Wer pfeift, ruft etwas herbei, schlimmstenfalls den Sturm, und einen solchen Unglücksraben könne niemand gebrauchen.