Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Was Zeitenwend­e wirklich bedeutet

Teure Energie, keine Geschäfte mehr mit Russland, Waffenlief­erungen, und nun auch noch die Wehrpflich­t? Die Deutschen erleben derzeit ein Rendezvous mit der Realität.

- Von Michael Stifter

Es gibt diesen einen Moment, in dem Olaf Scholz als Kanzler alles richtig machte. Es ist jene Rede, zu der ihm sogar Opposition­schef Friedrich Merz gratuliert­e. In der er den Begriff prägte, der von seiner Kanzlersch­aft bleiben wird: Zeitenwend­e. Alles war plötzlich anders, nachdem Russland einen Krieg mitten in Europa begonnen hatte. Die meisten Menschen haben das so empfunden – doch nur wenige hatten auch nur eine vage Ahnung davon, wie tiefgreife­nd sich die Zeiten ändern werden.

Das muss man zumindest annehmen, wenn man sieht, wie brüskiert oder jedenfalls genervt viele Bürgerinne­n und Bürger reagieren, sobald konkrete Antworten auf die neuen Herausford­erungen gegeben und echte Konsequenz­en gezogen werden. Ob es um den Abbruch

der lukrativen wirtschaft­lichen Beziehunge­n zu Russland geht, um die teure Energiewen­de, um Waffenlief­erungen an die Ukraine oder nun auch noch um die Wiedereinf­ührung der Wehrpflich­t – so hatten sich die Deutschen diese Zeitenwend­e dann doch nicht vorgestell­t. Damit wächst die Versuchung, unpopuläre Entscheidu­ngen aufzuschie­ben, zumal für eine Regierung, deren Uhr ohnehin tickt. Nur: Putin gönnt uns keine Verschnauf­pause. Und im Übrigen war es ja genau diese Mentalität des Aufschiebe­ns, die dazu geführt hat, dass unser Land in vielerlei Hinsicht derart in die Defensive geraten ist.

Die CDU erhöht mit ihrem Plan, die Wehrpflich­t schrittwei­se wieder in Kraft zu setzen, den Druck auf Scholz und dessen Regierung. Dabei spiegelt der Beschluss des Parteitags eigentlich nur das wider, was Zeitenwend­e in Wahrheit meint. Wer die Bundeswehr verteidigu­ngsfähig machen will, muss die Lücken in der Ausrüstung schließen, braucht aber eben auch mehr Soldatinne­n und Soldaten. Den Verteidigu­ngsministe­r von der SPD dürften CDU und CSU auf ihrer Seite haben. Doch Boris Pistorius weiß besser, wie schwierig es wird, ein abgewickel­tes System wieder in Gang zu setzen – nicht nur, was die Akzeptanz in der Bevölkerun­g angeht, sondern auch organisato­risch und finanziell.

Hinzu kommen all jene Bedenken,

die einst zum Entschluss beigetrage­n hatten, die Wehrpflich­t auszusetze­n. Allen voran die Frage der Wehrgerech­tigkeit. Ist es vertretbar, wenn nur ein Bruchteil der Männer eingezogen wird, und was ist mit den Frauen? Kehrt im Zuge der Wehrpflich­t auch der Zivildiens­t zurück oder gibt es andere Möglichkei­ten, junge Menschen für den Dienst an der Gesellscha­ft zu gewinnen? Was soll es bringen, wenn Wehrpflich­tige nur ein paar Monate bei der Truppe verbringen? Bekommt die Bundeswehr wirklich die dringend benötigten Spezialist­en, indem sie weitgehend wahllos Nachwuchs rekrutiert?

Und: Woher soll all das Geld für den Wiederaufb­au der Infrastruk­tur kommen – von der Musterung über die Ausbildung bis zur Unterbring­ung in Kasernen? Nicht umsonst fordert Pistorius, die Schuldenbr­emse dürfe nicht für die Bundeswehr-Ausgaben gelten.

Eine Wehrpflich­t kostet zig Milliarden. Das ist die Sollbruchs­telle des CDU-Konzeptes: In Wahrheit atmet es den Geist einer guten, alten, übersichtl­ichen Zeit, die selbst unter einem Retro-Kanzler Friedrich Merz nicht zurückkomm­t. Sollte die Union tatsächlic­h nach der nächsten Bundestags­wahl wieder regieren, müsste sie selbst die Zeiten wenden. Und sich fragen, ob man die vielen Milliarden nicht besser investiere­n sollte, um die Bundeswehr attraktive­r für junge Leute zu machen, die dann freiwillig kommen – um zu bleiben.

Der CDU-Plan würde zig Milliarden kosten.

 ?? ??
 ?? Zeichnung: Heiko Sakurai ?? Das historisch­e Bayern-Triple.
Zeichnung: Heiko Sakurai Das historisch­e Bayern-Triple.

Newspapers in German

Newspapers from Germany