Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt (34)
Er schloss das Bad ab, setzte sich auf den Wannenrand, um seine Schuhe auszuziehen. Die Finger bewegten sich nicht, die Hüften verweigerten die Beugung. Es klopfte. Mühsam stand er auf, horchte an der Tür.
„Ich bin es“, flüsterte seine Schwester.
„Lass mich, Thea“, bat er, ebenso leise.
Er wusste, sie war noch da, weil sich keine Schritte entfernten. Und auch er blieb stehen, das Ohr an das Holz gelegt, so wie er früher an dieser Tür gelehnt hatte, um den hellrosa Morgenmantel seiner Mutter zu betrachten, der noch lange nach ihrem Tod an der Innentür des Badezimmers gehangen hatte. Oz hatte das Gesicht darin verborgen, die Ärmel berührten seine Schultern wie eine Umarmung, bis der Mantel nicht mehr nach ihr roch und eines Tages verschwunden war.
Oz starrte auf die gekachelte Wand. Zählte die Reihe ab. Wenn er auf eine gerade Zahl kam, würde er… ja, was? Es war ein Spiel aus Kindertagen, das seine Mutter und Florentine sich ausgedacht hatten, um die Wartezeit auf den Ämtern zu verkürzen. Es half nicht.
Oz hörte ein silbriges Geräusch, begleitet von einem hellen Flackern in den Augenwinkeln. Ein modrig-feuchter Geruch füllte das Bad.
Sieh nicht hin, dachte er. Sieh nicht hin. Und tat es doch.
Vor dem Fenster, im Innenhof (feuchte Erde nach einem Regenguss,
glänzende Dachschindeln, Bretterzäune), bewegte sich Schuppenhaut. Sie glitt vor dem Fenster dahin, als bewegte sich nicht das, was vor dem Fenster war, sondern das Haus selbst, bis irgendwann ein Auge zu sehen war. Dann stand alles still. Oz hatte das Gefühl zu fallen – und als er wieder zu sich kam, lag er auf dem Boden, und das Fenster rahmte wieder einen festen Ausschnitt der Welt, Innenhof, Zäune, Dächer.
Jetzt wirst du zu einer jener jämmerlichen Gestalten, mit denen du Mitleid gehabt hast, dachte er. Niemand wird etwas für dich tun, weil auch du für niemanden etwas tun konntest. Und so setzt es sich auf alle Zeit fort, dass niemand den anderen retten kann.
Oz hatte seine Militärzeit in einem Gefängnis abgeleistet.
Weil er der beste Scharfschütze war, wurde er im Wachturm stationiert. Die Nächte waren besser als die Tage. Außer den vereinzelten Lichtern in den Fenstern lag nur der Acker vor ihm, der Wald wie ein Scherenschnitt, dahinter das Dorf, von dem nur der Kirchturm zu sehen war. Die Nächte waren kalt, aber nicht einsam wie die Tage. Der Himmel hörte ihm zu. Ein Vogel konnte eine Antwort sein. Eine Frau, die am Morgen übers Feld ging. Meist geschah nichts. Manchmal wurde jemand für ein Verhör aus seiner Zelle geholt, Zellen mit Betten ohne Kissen und Decken. Zellen mit Eimern statt Toiletten. Dass die Männer noch aufs Klo mussten, wunderte ihn, wo sie kaum etwas zu essen bekamen außer dünnen Suppen, Grieß- oder Maisbrei.
Oz hielt am äußersten Punkt dieser Welt Wache.
Drei Quadratmeter, Schießluken, eine Treppe.
Eines Nachts, er erleichterte sich gerade durch die Luke, tauchte ein Gesicht an einem der Fenster auf. Jemand musste noch so viel Kraft haben, um sich am Gitter hochzuziehen, oder den Schneid, sich auf den Eimer zu stellen. Oz schloss seinen Hosenschlitz, sah auf ein blasses, mondbeschienenes Gesicht, einen kurzgeschorenen Kopf, dunkle, glänzende Augen – wie die eines Kindes. Die Augen tasteten die Umgebung ab, die Weite des nächtlichen Himmels, die Sterne, die Lärche im Gefängnishof. Es kam Oz vor, als sähen sie ihn an. Er trat einen Schritt zurück. Das Gesicht verschwand, aber es tauchte in der darauffolgenden Nacht wieder auf. Oz gewöhnte sich an dieses Gesicht, es wurde Teil der Nacht, und er fragte sich, ob auch er Teil der Nacht dieses Mannes war oder ob er sich nur einbildete, dass der andere ihn sehen konnte, ihn geradezu suchte.
Ob er ihn hasste? Ihn als Verbündeten sah? Oz war ebenfalls gefangen, im Wachturm, den Kasernenräumen, diesem Land. Er schämte sich für diese Gedanken, wollte sich nicht mit dem Mann vergleichen. Und doch.
Eines Nachts tauchte der Mann nicht mehr auf. Das Gitterfenster blieb leer. Auch in der folgenden Nacht. In allen weiteren Nächten.
Sie werden ihn verlegt haben, dachte Oz und tat etwas, was er noch nie getan hatte, er erkundigte sich nach dem Häftling. Die Zellennummer konnte er sich ausrechnen, Block C, dritter Stock, siebtes Fenster von links.
„Pass auf, was du tust“, warnte ihn ein Soldat. „Was interessiert dich dieser Mann? Kennst du ihn?“
Oz nickte. Es war nicht einmal gelogen.
Am nächsten Morgen trat der Soldat in den Waschräumen an ihn heran. Der Gefangene sei nach einem Verhör tot in seinem Bett aufgefunden worden. Er sei herzkrank gewesen – wenn Oz verstünde, was er meine. Oz verstand.
Er hielt in seinem Turm Wache. Ein weiter Himmel.
Ein leeres Gitterfenster.
Als Erstes war der Geruch dagewesen. Modrige Kühle, wie an einem Waldsee. Dann ein silbriges Geräusch, begleitet von Flimmern, das ihn blendete wie eine spiegelnde Fensterscheibe.