Augsburger Allgemeine (Land West)
„Der Helmut Kohl wird nie Kanzler!“
Titel-Thema Franz Josef Strauß und sein ewiger Rivale – eine Geschichte von lautem Gebrüll und eiskalter Taktik, von zweisamen Spaziergängen und einem Mann, der sich um die Chance seines Lebens betrogen fühlte
Augsburg November 1976, der Dunst von Bier und Zigaretten wabert durch ein Wienerwald-Restaurant in München. Es ist schon spät, als Franz Josef Strauß der Kragen platzt. „Der Helmut Kohl wird nie Kanzler werden, er ist total unfähig. Ihm fehlen die charakterlichen, die geistigen und die politischen Voraussetzungen. Ihm fehlt alles dafür“, brüllt das politische Urvieh hinter vermeintlich verschlossenen Türen. Der CSU-Chef hat keine Ahnung, dass seine Wutrede an die Partei-Jugend heimlich mitgeschnitten wird. Schon bald landet eine Abschrift des brisanten Tonbandes ausgerechnet in der Redaktion des Spiegel. Jetzt weiß ganz Deutschland, wie Strauß wirklich über Kohl denkt.
Die Vorgeschichte dieses bayerischen Vulkanausbruchs liefert die Bundestagswahl 1976. Nach deprimierenden Jahren in der Opposition wittern CDU und CSU ihre Chance, endlich wieder an die Macht zu kommen. Nie war Franz Josef Strauß seinem Lebenstraum näher. Seit 1949 sitzt er im Bundestag, jetzt will er endlich Kanzler werden. Das Dumme an seinem Plan: Helmut Kohl hat genau denselben.
Der Pfälzer gilt als junger Wilder, schon mit 39 wird er Ministerpräsident. Seinen bayerischen Konkurrenten kann Kohl damit freilich nicht beeindrucken. „Strauß war davon überzeugt, dass er selbst der Gescheitere war. Und rein vom Intellektuellen her stimmte das wahrscheinlich sogar“, sagt Theo Waigel. Er hat mit beiden Politikern eng zusammengearbeitet und musste oft genug die Scherben zusammenkehren, wenn mal wieder ein Streit eskaliert war. Für Waigel ist klar: Strauß hat Kohls unbedingten Wil- len zur Macht unterschätzt. Der Oggersheimer ist schon damals ein gewiefter Stratege. Er knüpft ein Netzwerk von Vertrauten und Parteifreunden, die ihm einen kleinen oder größeren Gefallen schulden. Einer davon ist CDU-Generalsekretär Kurt Biedenkopf, der eines Tages ohne Rücksprache mit der Schwesterpartei CSU verkündet, Kohl werde 1976 als Kanzlerkandidat der Union antreten. Strauß erfährt das aus dem Autoradio. „Er war stinksauer“, erinnert sich Waigel. Doch die Sache ist gelaufen.
Kohl verliert die Wahl. Überraschend knapp zwar nur, aber er verliert. Helmut Schmidt regiert weiter und Strauß fühlt sich um die Chance seines Lebens betrogen. Monatelang brodelt es in ihm, bis seine Wut herausbricht – in der Wienerwald-Rede. Wenige Geschichten zeigen so offenkundig den Unterschied zwischen den beiden politischen Alpha- tieren wie diese. Auf der einen Seite Strauß, der Temperamentvolle. Auf der anderen Kohl, der Stratege. Der Jüngere nimmt die Demütigung durch den Älteren scheinbar ungerührt hin. Kohl lässt Strauß ins Leere laufen. Doch er vergisst nicht. Noch Jahrzehnte später wird er über seinen Rivalen sagen: „Das Problem vom Franz Josef bestand darin, dass er den Motor eines schweren Lasters hatte, aber die Bremsen von einem Kleinwagen.“
Dabei war auch Kohl selbst nicht zimperlich im Umgang mit seinen Gegnern. „Beide konnten grob und verletzend sein, aber Kohl war unter dem Strich der Beherrschtere und ganz sicher der bessere Taktiker“, sagt Waigel. Das zeigt sich eben auch, als Strauß Ende 1976 mit dem legendären „Trennungsbeschluss von Kreuth“die Fraktionsgemeinschaft mit der großen Schwester im Bundestag aufkündigt. Kühl demonstriert Kohl, wer am längeren Hebel sitzt. Er droht, mit der CDU notfalls auch in Bayern anzutreten und der CSU im eigenen Revier Konkurrenz zu machen. Strauß verliert auch diese Schlacht und geht wenig später schweren Herzens nach München, um endlich selbst zu regieren – wenn auch „nur“in Bayern. Seinen Traum von der Kanzlerschaft gibt er nicht auf.
1980 lässt die CDU Strauß den Vortritt. Es ist ein vergiftetes Geschenk. Denn kaum jemand gibt der Union eine Chance bei der Bundestagswahl. „Kohl war klug genug, um zu wissen, dass er gegen Schmidt auf dem Höhepunkt von dessen Popularität keine Chance hatte“, sagt Waigel. Auch Strauß hat keine Chance. Mit der Niederlage gegen Schmidt ist auch der Machtkampf mit Kohl für immer entschieden.
1982 wird Kohl Kanzler und bietet Strauß einen Posten in seiner Regierung an. Das bringt den Bayern in eine Zwickmühle. Es reizt ihn, wieder auf der großen Bühne mitzumischen. Aber Minister unter Kohl? Einordnen in der zweiten Reihe? „Er hätte akzeptieren müssen, dass Helmut Kohl jetzt sein Chef ist und der Jüngere endgültig am Älteren vorbeigezogen war“, sagt Waigel. Strauß akzeptiert es nicht und bleibt grollend in München. Das letzte Kapitel einer komplizierten Beziehung ist aufgeschlagen.
Strauß und Kohl nutzen jetzt Wanderungen und ausgiebige Brotzeiten, um über Politik zu diskutieren. Die Zeitungen schreiben von einer „Männerfreundschaft“. Erst viele Jahre nach dem Tod von Strauß erzählt Kohl, wie er seinen erschöpften Wanderkameraden sogar einmal ein Stück huckepack getragen hat. Die Ausflüge sind mehr als eine Inszenierung für die Fotografen. Tatsächlich schätzt der Pfälzer den 15 Jahre älteren Bayern als „brillanten Kopf“. Er beneidet ihn für die Fähigkeit, Menschen mit sei- nen Reden zu begeistern – ein Talent, das Kohl selbst völlig abgeht. Und doch bleibt das Verhältnis kompliziert. Strauß fordert auf den Spaziergängen durch die Natur verbindliche Zusagen. Er schickt unzählige Briefe nach Bonn. Doch Kohl lässt sich alle Türen offen. Manche Schreiben aus München landen direkt im Papierkorb.
Die ständigen Querschüsse gehen dem Kanzler auf die Nerven, zumal Strauß in diesen Jahren auch eine große Reiselust entwickelt. Er fliegt nach Washington und Moskau, wird von Despoten in Afrika und Südamerika empfangen. Kohl beobachtet das argwöhnisch. Nur einmal macht er sich die Bekanntheit des CSU-Chefs zunutze. 1983 lässt er Strauß den Milliardenkredit für die DDR eintüten. Das hat für beide etwas Gutes: Die CSU kehrt zurück auf die europapolitische Bühne. Und Kohl bindet Ostberlin enger an Bonn, ohne sich unangenehmen Fragen stellen zu müssen, warum ausgerechnet die Bundesrepublik das DDR-Regime unterstützt.
Der Weltpolitiker Strauß ist voll in seinem Element. Er genießt die Aufmerksamkeit und wird mehr denn je zum Chefkritiker der Bonner Politik. Und Kohl? Der revanchiert sich auf seine Weise. Waigel erinnert sich an einen „Riesenkrach“bei der Regierungsbildung 1987. Damals habe der Kanzler Strauß angeboten: „Wenn du selber ins Kabinett willst, bekommt die CSU vier Ministerposten. Wenn du in München bleibst, bekommt ihr fünf.“Kohl kostet seinen Triumph eiskalt aus. Später wird er sagen: „Franz Josef Strauß war kein starker Mann, überhaupt nicht.“Zu diesem Zeitpunkt ist sein ewiger Rivale schon lange tot. Als Strauß beerdigt wird, hält Kohl die Totenrede. Das letzte Kapitel ist zugeschlagen.
„Strauß war davon überzeugt, dass er selbst der Gescheitere war.“